Predigt am Sonntag der Butterwoche (Mt 6, 14-21)

(Röm 13, 11 - 14, 4)

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!
Die Heilige Kirche führt uns, liebe Brüder und Schwestern, ein in den Dom des großen Fastens und der Buße, der inbrünstigen Gebete und tiefen Beugung. Bevor wir jedoch die Schwelle in die heiligen vierzig Tage überschreiten, soll¬ten wir mit unseren Nächsten Versöhnung geübt haben.
Wo Feindschaft zum Bruder an unseren Herzen nagt, sind wir nicht wert, in der Kirche zu sein. Der Herr nimmt unser Gebet nicht an, weil es aus einem argen Herzen fließt. Ja mehr noch, unser Gebet erweist sich selbst dann als untauglich, wenn nicht wir, sondern ein anderer Mißfallen und Verärgerung uns gegenüber empfindet, vielleicht unberechtigterweise, wir aber uns nicht dazu bereit fanden, im Geiste der Demut ihn zuerst aufzusuchen und das alles überwindende Wort zu sagen: „Vergib!“
Wenn du deine Gabe zum Altar bringst, sagt uns Christus, der Lehrer der Demut, im Evangelium, und alsbald eingedenk wirst, daß dein Bruder etwas gegen dich habe, so laß deine Gabe dort vor dem Altar und gehe zuvor hin, dich mit deinem Bruder zu versöhnen. Danach komm und bringe deine Gabe dar (Matth. 5,23—24).
Unserem Nächsten die Schuld zu vergeben, sind wir schon deswegen gehalten, weil wir ohne diese Bereitschaft kein sittliches Recht haben, Gott um die Ver¬gebung unserer eigenen Sünden zu bitten, mit denen wir uns Tag für Tag be¬lasten. Der Vergleich ist eindeutig. Wie geringfügig ist die Schuld derer, die uns beleidigt haben, verglichen mit der Menge unserer Übertretungen des göttlichen Willens. Und wehe uns, wo wir den allbarmherzigen Vater um die große Gabe ewigen Heils zu bitten wagen, selbst aber um unseres Herzens Härtigkeit willen dem Mitmenschen seine kleine zeitliche Verfehlung nicht erlassen wollen. „Schließe mit deinem Gegner rasch Frieden, mahnt uns der Herr, solange du noch auf dem Weg mit ihm bist“ (Matth. 5,25). Wie aber, wenn der Tod die Unversöhnlichen ereilt? Ihr Los ist schrecklich. Der ehrwürdige Jefrem lehrt: „Wer im Geiste der Feindschaft stirbt, den erwartet ein unerbittliches Ge¬richt.“
Im Paterikon des Kiewer Höhlenklosters findet sich die Geschichte zweier Brü¬der im Geist, die in Liebe und Eintracht lebten. Da säte der Satan Feindschaft zwischen sie, so daß sie nicht einmal mehr einander in die Augen blickten. Im gegenseitigen Haß verharrten sie selbst beim Empfang der Heiligen Gaben.
Da erkrankte der eine von ihnen. Im Angesicht des Todes begann er seine Sünde gegen den Bruder zu bereuen und bat ihn um die Hand der Versöhnung. Jener antwortete darauf mit Verwünschungen. Die Bruderschaft des Klosters zwang ihn schließlich, an die Bahre des Sterbenden zu treten.
„Vergib mir um Gottes willen und segne mich“, sprach der Kranke. Schreck¬liche Worte waren die Antwort: „Nie werde ich mich mit dir versöhnen, weder in diesem noch im künftigen Leben.“ Plötzlich fiel er zum Entsetzen der Bruder¬schaft wie vom Schlag getroffen zu Boden. Die Mitmönche mußten sich über¬zeugen, daß er tot war. Zur gleichen Stunde erhob sich der Kranke von seinem Lager, als ob er nie siech gelegen hätte.
Ein ernstes Gericht erwartet den, der ohne Erbarmen sich gegen alle barm¬herzigen Regungen seines Herzens verschließt.
Um nicht mißbräuchlich die Worte des täglichen Herrengebets zu sprechen: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigem“, wollen wir, liebe Brüder und Schwestern, an diesem heiligen Tage der Ver¬gebung, einander die Schuld vergeben, solange die Sonne noch scheint und die Ewigkeit sich noch nicht trennend zwischen uns gestellt hat.
Als Christen wollen wir den ersten Schritt tun und die um Vergebung bitten, mit denen wir in Feindschaft geraten sind. Anders wird uns der Herr nicht die Tür zur Buße in der vor uns liegenden Zeit des vierzigtägigen Fastens schenken. Selbst die Leistungen strengen Fastens, anhaltenden Gebets, bitterer Tränen um unsere Sünde bleiben ungesegnet. Ohne das allmächtige, versöhnende Wort „Verzeih!“, das unsere Seele an den gekränkten Bruder richten soll, verliert sie den ersten und letzten Strahl der Hoffnung auf Begnadigung und Rettung im Jüngsten Gericht. „So seid denn auch ihr barmherzig, wie euer Vater barm¬herzig ist“ (Luk. 6,36). Amen.

Priester Wadim Smirnow

 


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Jahr:
1975