Gekommen ist die Zeit - Weihnachtsbotschaft an Hirten und Herde des Bistums Berlin und Leipzig
„Diese Zeit bringt nahe unser Heil.
Halte dich bereit, Grotte, die Jung¬frau kommt, zu gebären;
Bethlehem im Lande Juda, schmücke dich und sei fröhlich!
Denn aus dir strahlt leuchtend unser Herr auf."
Wiederum hat uns der Herr gewürdigt, den großen Tag der Geburt Christi zu erleben und zu feiern, in Erinne¬rung an die geheimnisvolle, aber von uns real bekannte Inkarnation Gottes. Jedes christliche Volk bringt dem neugeborenen Christuskind alle Jahre seine unver-wechselbaren Gaben, die Frucht unserer Liebe, die Freude und unsere Feststimmung, Gaben, die eine lange kulturelle Tradition haben.
Wer aus dem Bereich der europäischen Zivilisation weiß nicht um die vorweihnachtliche Hetze von Geschäft zu Geschäft auf der Suche nach Geschenken; kennt nicht den schönen Brauch eines stillen Adventsabends mit Freunden, Verwandten oder Kollegen, mit dem Gesang alter Weihnachtshymnen (so war es zumindest früher), mit Kerzen und weihnachtlichem Schmaus.
Solcherart das Fest zu feiern, ist russischen Christen nahezu unbekannt, weil die Zeit der Vorbereitung auf Weihnachten ein langes, freilich nicht sehr strenges Fasten einschließt. Ich erinnere mich, wie in der Ukraine das Fest der Einführung in den Tempel erwartet wurde, um zum erstenmal im Kirchenjahr nach dem Gesang des Weihnachtskanons „Christus wird geboren, lob¬preist ..." in der Nachtwache, dann zu Hause mit der feierlichen Vorbereitung auf das Fest und dem Gesang der Koljadki fortzufahren, die nun ohne Unterbrechung bis zum Fest selbst erklingen.
Andererseits hat sich bei den westlichen Christen eine Erinnerung an das Fasten gehalten, wenn in vielen Län-dern am Vorabend des Weihnachtsfestes das obligato-rische Fischgericht serviert wird. So verbinden sich auf gar seltsame Weise verschiedene Sitten, das Fasten mit den Werken der Buße und inneren Besinnung und die Fre u d e, die aus der Erwartung des kommenden Heilandes erwächst, die man schon vorher mit anderen teilen will. Die Kirche billigt beide Einstellungen. Doch mahnen uns gerade zum Fest der Geburt Jesu Christi die
Worte des hl. Apostels Paulus eindringlich: „Niemand kann Jesus einen Herrn nennen, es sei denn durch den Heiligen Geist" (1. Kor. 12, 3). Mit anderen Worten: Die Geburt des Gotteskindes Jesus, unseres Heilandes und Erlösers, ist vor allem eine Sache des Glaubens, und die Geistesgabe des Bekenntnisses zu Christus und Seiner Lehre eine Gabe des Glaubens.
Die Folklore vermag dem gläubigen Herzen nicht das zu ersetzen, was das Wichtigste ist: die Frohbotschaft vom Kommen des Erlösers in die Welt. „Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren soll. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids" (Luk. 2,10-11).
Aber unsere Augen sind des Unsichtbaren, Heiligen und Göttlichen ungewohnt, sind unempfänglich dafür. Vor vielen zeitgenössischen Denkern und anderen, die sich für Religion interessieren, steht die Frage: Wie muß der moderne Mensch innerlich gestimmt sein, um die Nachricht von Christus nicht nur äußerlich, sondern auch tief innerlich aufzunehmen? Einmal abgesehen von der seltenen Ausnahme konsequenter Skeptiker in der europäischen Zivilisation, gibt es noch immer viele Menschen, wenn nicht die Mehrzahl, die glauben, daß Jesus Christus in der Welt war, in Bethlehem geboren wurde und auf Golgatha gekreuzigt, die sogar, wenn¬gleich auf ihre Weise, die Tatsache der Auferstehung akzeptieren ...
Schon geringer ist die Zahl derer, welche glauben, daß der Herr nicht nur da war, sondern auch da sein wird, nämlich kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten, ja daß „Seines Reiches kein Ende sein wird". Und noch geringer ist die Zahl derer, die glauben, daß Jesus Christus, der Herr, nicht nur war und sein wird, sondern auch ist: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Matth. 28, 20).
Das Leben des Erlösers in Vergangenheit und Zukunft zu betrachten, heißt noch nicht glauben, denn Vergan¬genheit wie Zukunft gehören uns nicht. Wir leben aus¬schließlich in der Gegenwart. Als der Herr in die Welt kam, kam Er in unsere Gegenwart . Im Gegenwärti¬gen tritt Er in unser Leben ein. Das Wesen des Glaubens meint die lebendige Gemeinschaft der Seele mit Gott. Dies ist für die menschliche Seele ein unaufhörliches Fest im Angesicht des lebendigen Gottes.
Unser Glaube wird nicht dadurch orthodox, daß wir uns an die Wahrheit erinnern oder vor ihr stehenbleiben, sondern daß wir in der Wahrheit leben. Gemeint ist jene Wahrheit, von der Christus sagt: „Ihr werdet die Wahr¬heit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" ( Joh. 8, 32).
Alle Erfahrung unseres kirchlichen Lebens besagt, daß die Kirche die Wahrheit bewahrt und zugänglich macht für das Verständnis eines jeden Glaubenden. Aber macht uns dieses Wissen frei? Sind wir frei von allen Makeln dieser Welt, sind wir innerlich frei, Taten zu tun, die von unserem Pflichtgefühl und dem Gefühl für Gerechtigkeit und Ehrbarkeit gesteuert sind? Sind wir frei in unserem Urteil, oder wollen wir lieber von den Lebensproblemen unter dem Deckmantel banaler Wahrheiten ablenken, um einer längst überholten for¬malen Frömmigkeit willen? Sind wir frei, jedem Men¬schen Gutes zu tun, für Waisen und Witwen einzutre¬ten? Frei vom Nationalismus, der in Chauvinismus überzugehen droht, wo immer er sich zeigt?
Einst sind die Festbotschaften ihrer unnötigen Politisie¬rung wegen kritisiert worden. Jetzt kritisiert man uns häufig, weil wir schweigen, wo man schreien müßte, wenn das Leben des Menschen keinen Wert mehr hat und man es ihm einfach nehmen kann, weil ein Feind ist, wer nicht deiner Nationalität oder deines Glaubens ist. Der Irrsinn des Geschehens macht uns nicht einmal mehr betroffen. Wir sind daran gewöhnt. Man möchte meinen, daß das erste von ruchloser Hand vergossene Blut nicht nur zum Himmel, sondern auch zur Welt schreit mit ihren Organisationen zur Erhaltung einer vernünftigen Ordnung auf Erden. Aber dies geschieht nicht. Das ungestrafte Böse löst eine Kettenreaktion
aus, und wir konstatieren nur die Zahl der Opfer menschlichen Hasses und Wahnwitzes.
Darin offenbart sich allerdings keine Weihnachtsstim-mung. Aber viele Millionen Christen sind davon betrof¬fen. Daß wir doch wenigstens im Gebet an sie dächten. Und vielleicht können wir sogar in aller Bescheidenheit ein gutes Werk tun für die, die unter Kriegen leiden, oder uns ermannen zu einem mutigen Wort.
Unser gläubiges Herz verfällt heute in Staunen. Nach einem Wort von Johannes Chrysostomos wurde „der an Tagen Alte" zum Kinde. Die Vision des mit verschiede¬nen Symbolen umgebenen Geheimnisses von Bethle¬hem weckt in uns eine starke positive Emotionalität. Jeder möchte auf seine Art dem Gotteskind Liebe erweisen.
Verschließen wir unsere guten Absichten nicht, sondern schaffen wir etwas Gutes an diesen heiligen Tagen der Geburt Christi und in der folgenden Zeit der heiligen Nächte. Ja, mögen es nicht nur Tage des Kirchenkalen¬ders und eine Zeit der Erinnerung an halb versunkene Traditionen sein, sondern Tage froher Gemeinschaft mit dem Herrn durch den Austausch mit unseren Näch¬sten, deren es so viele gibt, wenn wir uns nur aufmerk¬sam umschauen. Christus wird geboren — lobpreist!
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