1918 Jekaterinburg - Moskau 1989

Die erste Information über die Auffindung der sterblichen Überreste der Zarenfamilie traf telegraphisch am 13. April 1989 ein. Sie gründete sich auf das bald nachfolgende Interview des ehemaligen Mitarbeiters der Miliz und jetzigen Schriftstellers Gelij Rjabov in den "Moskauer Nachrichten" (16.4.1989). Hier wurde auch auf eine künftige detailliertere Publikation in der Zeitschrift "Rodina" (Heimat) Nr. 4 & 5 verwiesen, die uns unzugänglich geblieben ist.
Gegenüber den Aussagen Rjabovs herrschte zunächst allgemeine Skepsis. Seltsam fiel die Verbindung auf zwischen dieser plötzlichen Publikation und der "Empfehlung" der britischen Premierministerin M. Thatcher an die britische Königin, eine Einladung in die UdSSR nicht anzunehmen, die mit dem Zarenmord motiviert wurde. Nach der Rückkehr Gorbaçovs aus England erfolgte die sensationelle Publikation über die Auffindung der sterblichen Überreste, die angeblich von Rjabov 10 Jahre zuvor gefunden worden waren. Es konnte immerhin auch sein, daß Rjabov selbst auf einen günstigen Moment gewartet hatte, der jetzt eingetreten war. Jedenfalls trat Rjabov sofort mit der Forderung an die Öffentlichkeit, daß er eine "Erlaubnis zu einem den Menschen und Christen gebührenden Beerdigung der Hingerichteten" zur Voraussaetzung einer Veröffentlichung des eigentlichen Ortes mache.
In der Presse wurde die Meinung geäußert, Rjabov betreibe eine geschickte Selbstreklame, aber Menschen, die Rjabov persönlich kannten, sprachen von ihm als von einem ehrlichen und gewissenhaften Menschen, sagten, er habe sich tatsächlich seit langem für die Weiße Bewegung und die Zarenfamilie interessiert.
Im Mai ließ auch die sowjetische Zeitschrift "Ogonjok" (21/1989) in ihrer Weise von sich hören. Im Artikel "Die Erschießung in Jekaterinburg" werden erstmalig Teile aus der "Notiz" des Haupthenkersknechts Jakob Jurovskij publiziert, die er im Jahre 1920 niedergeschrieben hatte. Angeblich wird darin sogar der genaue Ort des Grabes angegeben. Diese Stelle wird bezeichnenderweise nicht zitiert. Aber warum hätte dann Rjabov unter Zuhilfenahme aller seiner Erfahrung eines Kriminalisten suchen müssen? Außerdem hätten dann die damalige ÇeKa oder das jetzige KGB schon längst ihre Hand nach diesem Ort ausstrecken können.
Anfangs hatte sich auch Nikolai Ross (Russkaja mysl', 5.5.1989) skeptisch gezeigt, der die Herausgabe des Buches "Der Untergang der Zarenfamilie. Materialien der Untersuchung über den Mord an der Zarenfamilie (August 1918 - Februar 1920)", Possev-Verlag, Frankfurt 1987, besorgt hatte (rezensiert in "Bote..." 6/1987, S. 18 f). Aber nach dem Erscheinen des Artikels im "Ogonjok", der von Verschweigungen und Perestrojka-Vernebelung nicht frei ist, kam Ross zu dem Schluß, daß Jurovskij in seiner "Notiz" an bestimmten Punkten log, weil er seinen Auftrag nicht vollständig erfüllt hatte und dies verwischen mußte. Rjabov habe nun die Angaben in der "Notiz" mit den Materialien des Untersuchungsrichters N. Sokolov, dessen Buch 1925 erschienen war, miteinander verglichen und richtig gewertet. Er habe so zu den richtigen Schlüssen gelangen können, wonach nur noch vor Ort zu suchen gewesen sei (Russkaja mysl', 7.7.1989).
Einer unserer Freunde in Moskau schrieb uns einen Brief, aus dem wir Auszüge publizieren (s. unten). Einige Zeit später erreichte uns auch der gesamte umfangreiche Text des Vortrags von Rjabov in Moskau. In diesem Sommer kam weitere Information, die noch mehr Vertrauen erweckt. Ganz offensichtlich kümmern sich die Menschen in Rußland darum, daß die Fakten nicht verloren gehen - sicherheitshalber, denn die Zukunft in Rußland ist alles andere als eindeutig.
Die Echtheit der Reliquien kann nur eine wissenschaftliche Kommission feststellen. Hier entsteht aber auch die Frage der angemessenen Würde und der geziemenden Übertragung der Reliquien. In diesem Zusammenhang tauchen vielerlei Probleme auf, sogar äußerst komplizierter Natur. Wie werden sie gelöst. Hier liegt noch alles in der Zukunft.
Wir wollen hier zunächst unsere Leser mit dem Auszug aus dem Brief unseres Korrespondenten bekanntmachen:   
"Vor einem Monat erschien in den 'Moskauer Neuigkeiten' eine Meldung, die uns alle in Aufregung versetzte. Die Reliquien der Mitglieder der Zarenfamilie und der Dienerschaft, insgesamt 11 Personen, wurden aufgefunden. Vor 13 Jahren begann Gelij Rjabov, ein Mitarbeiter der Miliz, ehemaliger Kriminalinspektor und jetzt Mitglied des Schriftstel-lerverbandes, seine Nachforschungen, die von Erfolg gekrönt wurden. Der Artikel selbst flößte mir kein genügendes Vertrauen ein. Aber vor einer Woche gelang es mir die Aufzeichnung des Vortrages von Gelij Rjabov zu bekommen, den er im Institut  für Geschichte und Archivwesen gehalten hatte. Da verschwanden meine Zweifel. Wir haben es hier nicht nur mit den Nachforschungen eines gewissenhaften Menschen zu tun, sondern auch mit einem Glücksfall, der nicht anders als mit göttlichem Wohlwollen zu erklären ist.
"Aus den Zeugenaussagen und dem, was in der Notiz Jurovskijs gesagt ist (die mir sein Sohn, Alexander Jakovleviç Jurovskij gezeigt hatte), konnte der Ort, wo die Romanovs lagen hinreichend genau festgestellt werden. Es hieß nur noch, ihn praktisch zu finden. Ich kehrte nach Sverdlovsk zurück. Meine Freunde - erfahrene Geologen - erkundeten sogleich die gesamte Gegend und im Ergebnis einer furchtbar schwierigen, schweren Arbeit kamen wir zu der Stelle, wo, nach unserer Überzeugung, das Grab sein mußte. Wir erforschten diese Stelle, die etwa 150 m lang ist, durch einen ganz gewöhnlichen, primitiven geologischen Handgriff, so wie es die Geologen der 20-er Jahre zu tun pflegten, als sie keinerlei Ausrüstung hatten. Ein angespitztes Wasserrohr mit einem Durchschnitt von 6 oder 7 cm wurde mit einem schweren Hammer jeden Meter in die Erde geschlagen, dann wurde der Inhalt wieder herausgeschlagen und wir schauten das Gestein an. In dem Augenblick, als nicht mehr die gewöhnliche Festlandserde, sondern Mischerde herauskam, schlugen wir die Rohre ganz besonders fleißig ein - und wurden belohnt, denn buchstäblich beim fünfzigsten oder sechzigsten Schlag fielen aus dem Rohr gepreßte Kreise heraus, solche Erdwürstchen, die völlig schwarz aussahen und sich ölig anfühlten. Wir erkannten, daß wir am Ziel angelangt waren, weil Schwefelsäure genau diesen Effekt auf organische Materie hat. Die Männer, die mit mir waren, wußten das professionell. Dann an dem bestimmten Tag, das war der 30. Mai 1979 sehr früh öffneten wir diese Stelle, entdeckten Reisig, entdeckten vermischte Erde, entdeckten Stöcke und Bretter, und in 70 cm Tiefe rief einer (ich weiß nicht mehr, wer): "Schau, irgendein Eisenstück". Das war kein Eisen, das war ein Beckenknochen, der eine blauschwarze Farbe hatte (...) Es war ein ganzes Skelett, das wie sich später herausstellte, dem Zaren und Kaiser Nikolai Alexandroviç II. gehörte. Dort war auch sein Schädel. Und überall, soweit man mit den Händen greifen konnte, in die Tiefe und in die Seiten, zählten wir mehr als acht Skelette (vielleich mehr als neun), also extrapolierten wir, und ich glaube, wir hatten Recht mit unserem Schluß, daß alle elf hier waren. Da gab es keine Zweifel. Was bestätigte, daß wir das fanden, was wir finden sollten?
Erstens: Kopfschußwunden mit dem Kaliber 9 mm, 7.65 mm u.s.w.
Zweitens: wir fanden Splitter der Keramikdosen mit der Schwefelsäure, die mit Verfügung des Volksversorgungskommissariats bestellt worden waren...
Drittens: wir entdeckten, daß Nikolai Alexandroviç in der linken unteren Kieferhälfte eine goldene Brücke über sechs oder fünf Zähne (ich erinnere mich jetzt nicht genau) hat, der ganz und gar in den Traditionen der damaligen Art und Weise der Zahnprothesen gemacht ist. Aus dem Tagebuch Nikolaus II. ist dieses Faktum bekannt: 'Den ganzen Tag sitze ich beim Zahnarzt, wahnsinnige Schmerzen, habe alles satt...' u.s.w. (...)
"Es war eine schwere Zeit - das Jahr 1979. Deshalb konnte außer Fotos und einiger 'Gegenstände': Haare, abgestorbene Zellmasse, sehr gut hat sich das Gehirn erhalten (es ist ausgetrocknet und hat den Umfang etwa eines großen Apfels" - gemeint ist hier der Schädel der Anna Stepanovna Demidova - "Das alles mußten wir nach einem Jahr wieder zurückbringen. Unser Eindringen konnten wir nur auf diese Weise rechtfertigen: auf einem Kreuz schnitzte ich die Worte aus dem Evangelium von Matthäus: 'wer bis ans Ende ausharrt, wird gerettet werden'. Dieses Kreuz senkten wir in das Grab, und auf diese Weise hielten wir unsere Mission für erfüllt".
Unser Korrespondent schreibt weiter: "Gelij Rjabov gibt den Ort, wo all das geschah bislang nicht an. Natürlich sind Garantien nötig, daß der Versuch, die Reliquien zu vernichten, sich nicht wiederholt. Diese Gefahr besteht durchaus, weil die Ideologie der regierenden Partei sich im Verlaufe der letzten 70 Jahre nicht verändert hat. Als dem Wesen nach atheistisch stimulierte sie damals ein zum Himmel schreiendes Verbrechen und auch heute ist etwas ähnliches nicht ausgeschlossen. Dieses Verbrechen kann nicht durch eine 'Überzogenheit' in der Politik, irgendwelchem 'Voluntarismus' oder 'Eigenmächtigkeiten vor Ort' oder mit 'Primitivismus' und 'Vulgarisierung der Ideologie' gerechtfertigt werden.
Ich möchte noch ein Zitat aus dem Vortrag bringen: 'Jurovskij ist ein Henker, aber Jurovskij hatte gewisse Charakterzüge eines normalen Menschen. Den jungen Koch Setnev ließ er zwei oder drei Stunden vor der Erschießung wegbringen. Diesen Jungen hätte er auch töten können, aber er tat es nicht. Und warum muß man denn unbedingt den Bauern töten (einen Zeugen. - Antwort auf eine Frage aus dem Publikum), er ist doch kein Sadist. Jurovskij ist kein Sadist, - er ist ein überzeugter Bolschewik (Lachen im Saal, Applaus)'..." - soweit der Brief aus Moskau.
Zur Bildung einer unabhängigen gesellschaftlichen "Kommission zur Eröffnung des Grabes und zur Erforschung der angeblichen Überreste der ermordeten Mitglieder der Zarenfamilie" konnten in kürzester Zeit über 10.000 Unterschriftengesammelt werden. Einem der Sammelnden gelang es an einem einzigen Tag an einer Straßenecke 900 Unterschriften zusammenzubringen.
Eine detaillierte Untersuchung wird gefordert, denn eine Reihe kritischer Fragen bezüglich der Version Rjabovs bleiben nach wie vor offen.
Im "Moskauer Kirchlichen Boten" (Nr. 10, August 1989) erschien folgende Nachricht:
"Am 16. Juli empfing der Volksdeputierte der UdSSR, Metropolit von Volokolamsk und Jurjev Pitirim den bekannten sowjetischen Kinodramaturgen und Laureaten der Staatsprämie der UdSSR G. T. Rjabov auf sein Ersuchen anläßlich der Frage nach der Möglichkeit einer Umbettung des ehemaligen Zaren Nikolaj Alexandroviç Romanov und der Mitglieder seiner Familie. Metropolit Pitirim äußerte die Auffassung, daß von allen vorgeschlagenen Wegen einer Lösung der Frage nur einer gewählt werden kann - die Prozedur der Exhumierung und der Identifizierung mit einer folgenden christlichen Beerdigung im Kontakt mit den offiziellen Instanzen zu entscheiden.
G. T. Rjabov informierte auch über die Gründung eines Christlichen Fonds, der als einziges moralisches Ziel die Beerdigung der sterblichen Überreste der Familie nach dem orthodoxen Ritus haben würde."
Wie wir uns erinnern, verleumdete der damalige Erzbischof Pitirim im Jahre 1983 die Verherrlichung aller Neomärtyrer Rußlands, indem er die kanonische Grundlage einer Verherrlichung von Märtyrern verzerrt darstellte. Sodann reduzierte er die Verherrlichung der Neomärtyrer Rußlands, die viele Hierarchen und Priester, Märtyrer aus dem Mönchs- und dem Laienstand umfaßte, allein auf eine angeb-liche "Kanonisierung Nikolaus des Zweiten", die von ihm dann als "eine rein politische Demonstration" bezeichnet wurde (Interview im Buch: W. Moltschanow, C. Segura, Mein Glaube ist frei, Moskau 1983, S. 25). Und in demselben Jahr 1983 erklärte er, der heutige Volksdeputierte der UdSSR, in der dänischen Presse, daß der Staat und die Kirche in der UdSSR nicht nur "koexistierten" sondern sich zu "einem Ganzen" verwandelten (Glaube in der 2. Welt, Nr. 2, 1984, S. 4). Also verwandelten sie sich schon damals zu "einem Ganzen" (wer erinnert sich noch an jene Zeiten?), und für den jetzigen Volksdeputierten haben sie sich wohl vollends verwandelt. Kein Wunder, daß er "von allen vorgeschlagenen Wegen einer Lösung der Frage" (offenbar schlug Rjabov auch irgendwelche andere vor), nur den einen - den offiziellen - übrigließ, d.h. den mit Beteiligung des KGB u.s.w.
Was ist der ethische Wert einer derartigen "Umbettung" mit solchen und ähnlichen Vertretern zweifelhafter Bestrebungen? Oder wußte G. Rjabov nicht, hatte keine Vorstellung davon, bedachte nicht, daß es ein Frevel ist, wenn der KGB an die Übertragung der Reliquien rührt? Aber warum ging er dann zu Metropolit Pitirim?
Eine solch schmerzliche Frage steht jetzt vor der Russischen Kirche - wenn, ja wenn es sich wirklich um die Reliquien der Märtyrer-zarenfamilie handelt, und nicht einfach um eine grandiose Operation des zu "einem Ganzen" zusammenwachsenden Parteistaates und des sergianischen Patriarchats.
Das ist unsere Zeit - zu wenig Kirchlichkeit und zuviel Zwiespältigkeit in den Geistern und den Seelen.