Über den christlichen Nationalismus

Als Folge der politischen Ereignisse der letzten Monate gewann die nationale Frage in Rußland besondere Bedeutung. Nachdem die gottlose kommunistische Macht den Völkern den Internationalismus in terroristischer Weise aufgezwungen hatte, zerstörte sie jede gesunde Beziehung zur nationalen Frage und führte letztlich die Völker, die einst friedlich im Russischen Imperium vereint waren, zu tiefem Mißtrauen und elementarer Feindschaft. Immer wieder tauchen Zeichen nationalen Hasses auf und der Russische Staat droht zu zerfallen. Ähnliche Probleme tauchen heute aber auch in Deutschland auf, wo sich viele Menschen ernsthafte Sorgen über den Modus einer Wiedervereinigung machen, und die Diskussion darüber häufig von Vorurteilen und Mißverständnis getragen wird. Unter diesem Gesichtspunkt scheinen uns die Gedanken von Ivan Alexandroviç Il'jin "Über den christlichen Nationalismus" äußerst wertvoll für den zeitgenössischen Leser. Sie stellen das 7. Kapitel seiner Arbeit "Grundlagen der christlichen Kultur" dar, die soeben im Verlag des Hl. Hiob von Poçaev in München in russischer Sprache erschienen ist. Wir geben hier den vollen Text des 7. Kapitels wieder. (Red.)

Die Kultur wird nicht allein vom Menschen gemacht. Sie ist das Erbe vieler Menschen, die geistig miteinander vereint sind. Jedes Freundespaar bildet in seiner Beziehung ein bestimmtes Kulturniveau und schafft bestimmte kulturelle Werte. So verhält es sich auch in der Familie, in der Gesellschaft, in jeder Organisation und bei jedem Volk. Die Menschen schließen sich nicht zufällig zusammen: durch die Verwandtschaft der materiellen und geistlichen Interessen ziehen sie sich gegenseitig an. Aus dieser Verwandtschaft erwächst die Gemeinschaft; eine langanhaltende Gemeinschaft vergrößert die gegenseitige Ähnlichkeit, und wenn die Gemeinschaft schöpferischen Charakter trägt, so wächst auch die gegenseitige Anziehung, die gemeinsame Bindung wirkt verstärkt. Dieses Band wird weiter gefestigt durch die von Generation zu Generation weitergegebene Tradition. So bildet sich nach und nach eine einheitliche und allen gemeinsame Kultur heran.
Die tiefste Einigung der Menschen entspringt aus ihrer geistlichen Homogenität, aus ihrer zueinanderpassenden seelisch-geistigen Veranlagung, aus der gleichen Liebe zu ein und demselben Ideal, aus dem gemeinsamen Schicksal, das sie in Leben und im Tod verbindet, aus der gleichartigen Lebensanschauung, aus der gleichen Sprache, dem gleichen Glauben und dem gemeinsamen Gebet. Genau das ist die nationale Einigung der Menschen.
Das Nationalgefühl steht nicht nur in keinem Widerspruch zum Christentum, sondern es empfängt von ihm seinen höchsten Sinn und sein Fundament: denn es schafft die Zusammengehörigkeit der Menschen im Geist und in der Liebe und klammert das Herz an das Höchste auf Erden - an die Gaben des Heiligen Geistes, die jedem Volk gegeben werden und die von jedem auf seine eigene Weise in der Geschichte und im kulturellen Schaffen verwirklicht werden. Deshalb unterliegt die christliche Kultur, die auf Erden gerade als nationale Kultur und als Nationalismus verwirklicht wird, keiner Verurteilung, sondern einer freudigen und schöpferischen Annahme.
Jedes Volk besitzt einen ihm von der Natur (und das heißt auch von Gott) gegebenen Instinkt und Geistesgaben, welche ihm vom Schöpfer des Weltalls geschenkt wurden. Bei jedem Volk leben Instinkt und Geist nach ihrer Weise und bringen ihre wertvolle Eigentümlichkeit hervor. Daher hat auch jedes Volk seine eigene Art, zu heiraten, Kinder zu gebären, krank zu sein und zu sterben, seine eige-ne Art, zu faulenzen, zu arbeiten, zu wirtschaften und zu rasten; auf seine eigene Art trauert es, weint und verzagt es, auf seine eigene Art lächelt es, lacht und frohlockt es; auf seine eigene Art schreitet es und tanzt es, singt es und macht es Musik; nach seiner Art redet es, rezitiert es, macht es sich lustig und hält Reden; nach seiner Art beobachtet, betrachtet und malt es; nach seiner Art forscht es, erkennt es, urteilt und beweist es; nach seiner Art bettelt es, ist es wohltätig und pflegt es Gastfreundschaft; auf seine Art baut es Häuser und Kirchen; auf seine Art betet es und ist es heldenmütig; auf seine Art kämpft es... auf seine Art schwingt es sich empor und verzagt es, auf seine Art organisiert es sich. Jedes Volk hat ein anderes, ihm eigenes Ge-fühl für Recht und Gerechtigkeit, einen anderen Charakter, eine andere Disziplin, andere Vorstellungen über sittliche Ideale, einen anderen politischen Traum, einen anderen staatlichen Instinkt. Mit einem Wort: jedes Volk hat eine andere, ihm eigene seelische Veranlagung und einen besonderen geistig-schöpferischen Akt. Und jedes Volk hat eine besondere, national gewachsene, national gereifte und national erlittene Kultur.
So verhält es sich von der Natur und von der Geschichte her. So hat es seine Bewandtnis im Instinkt, im Geist und im gesamten kulturellen Schaffen. So ist es uns allen von Gott gegeben.
Das ist gut und schön so, und niemals wurde es in der Schrift verurteilt. Verschieden sind die Tiere und Blumen auf dem Felde, verschieden die Bäu-me, Gewässer und Wolken. "So ist auch der Glanz der Sonne anders als der des Mondes und der Ster-ne, denn ein Stern ist vom anderen an Glanz verschieden" (1 Kor. 15,41). Reich und herrlich ist der Garten Gottes: er ist überreich an Arten, glänzt durch die Vielzahl seiner Formen, er strahlt und erfreut uns durch seine Vielfalt. Jedes Volk soll auch seiner Eigenart gemäß existieren, gedeihen und Gott loben. Und eben in dieser Vielfältigkeit erhebt sich der Ruhm und Lobgesang zum Schöpfer. Man muß schon geistig blind und stumm sein, um dies nicht zu begreifen.
Der Gedanke, diese vielfältige Herrlichkeit auszulöschen, diesen Reichtum des historischen Gartens Gottes zu vernichten, alles auf eine tote, einförmige Schablone, auf die "Uniformität", auf die Ähnlichkeit der Sandkörner, auf die totale Unterschiedslosigkeit zu reduzieren, nachdem schon die spirituelle Unterschiedlichkeit in der Welt erschienen war, kann nur in einer kranken Seele, aus einer bösen, neidischen Konvulsion oder aus einer toten und blinden Vernunft entstehen. Solch eine fade und abgeschmackte, kulturfeindliche und allzerstörerische Idee wäre eine richtige Manifestation von Gottlosigkeit. Sie aus dem Christentum, aus dem Evangelium zu schöpfen, wäre in der Orthodoxie völlig unmöglich.
Denn das Christentum gab der Welt die Idee einer persönlichen, unsterblichen Seele, individuell ihrer Begabung und ihrer Verantwortung nach, abgesondert in der Sünde, ursprünglich in der Reue und in der Liebe, d.h. die Idee der metaphysischen Originalität des Menschen. Übereinstimmend damit ist die Idee der metaphysischen Originalität des Volkes nichts weiter als die wahre und folgerichtige Entwicklung des christlichen Verständnisses. Der heilige Seraphim von Sarov sagte, daß Gott sich um jeden Menschen so sorgt, als wenn er für Ihn der einzigste wäre... Das gilt für den persönlichen Menschen. Aber wie verhält es sich mit dem einzelnen Volk? Sorgt Gott überhaupt nicht für es? Verwirft, verurteilt und verdammt er es? Jede Lilie kleidet Er in individuelle und wunderbare Gewänder, eines jeden Vogels am Himmel gedenkt Er und ernährt ihn, und alle Haare auf dem Haupt des Menschen hat Er gezählt - aber die Originalität des Le-bens eines Volkes soll Er als ein Prinzip des Bösen verfluchen und als Sünde und Gemeinheit verwerfen? Kann denn der Christ solch eine Ansicht vertreten?
Jedes Volk dient Gott so gut es kann: durch seine ganze Geschichte, durch seine ganze Kultur, durch seine Arbeit und seinen Lobgesang. Ein Volk dient auf schöpferische Weise und blüht geistig; ein anderes ist nicht schöpferisch und verwelkt geistig. Es gibt solche Völker, die aufhören zu dienen, und zur Schlacke der Geschichte werden; und es gibt auch solche, die in ihrem kleinen und dürftigen, hilflosen Dienst erlöschen und es nicht zur Blüte bringen. Aber es gibt auch solche, die ihren Dienst nur unter der Führung eines anderen geistig stärkeren Volkes verwirklichen können.
So ist also der Nationalismus ein überzeugtes und leidenschaftliches Gefühl, richtig dem Wesen nach und wertvoll in schöpferischer Hinsicht,
- weil mein Volk die Gaben des Heiligen Geistes erhielt;
- weil es sie durch sein instinktives Wahrnehmungsvermögen aufnahm und sie schöpferisch auf seine Weise umformte;
- weil es als Folge hiervon reich an Kraft wurde und fernerhin zu großen schöpferisch-kulturellen Leistungen berufen ist;
- weil meinem Volk aus diesem Grund kulturelle "Selbständigkeit" gebührt, als ein Pfand der Größe (Pu‚kin!) und der Unabhängigkeit seines national-staatlichen Wesens.
In diesem tiefen und wahren Gefühl hat der Christ recht und ist auch keiner Verurteilung unterworfen. Dieses Gefühl umfängt seine ganze Seele und befruchtet seine Kultur.
Das nationale Gefühl ist die Liebe zum historisch-spirituellen Charakter und zum schöpferischen Akt des eigenen Volkes.
Der Nationalismus ist der Glaube an die gottgesegnete Kraft des eigenen Volkes - und daher an die eigene Berufung.
Der Nationalismus ist der Wille zu seiner schöpferischen Entfaltung in den Gaben des Heiligen Geistes.
Der Nationalismus betrachtet sein Volk vor dem Antlitz Gottes, er sieht seine Seele, seine Talente, seine Mängel, seine historische Problematik, seine Gefahren und Versuchungen.
Der Nationalismus ist eine Verhaltensweise, die aus dieser Liebe, aus diesem Glauben, aus diesem Willen und aus dieser Betrachtung entspringt.
Deshalb ist der wahre Nationalismus keine dunkle, antichristliche Kraft, sondern ein geistliches Feuer, das den Menschen zum opferbereiten Die-nen und das Volk zur geistigen Entfaltung emporhebt.
Der christliche Nationalismus ist ein Entzücken aus der Kontemplation seines Volkes auf göttlicher Ebene in Begriffen Seiner Gnadengaben und ge-mäß den Wegen Seines Königsreiches.
Er ist die Danksagung an Gott für diese Gaben, aber er ist auch die Betrübnis über das eigene Volk, wenn dieses Volk nicht auf der Ebene dieser Gaben lebt.
Im nationalen Gefühl liegt die Quelle der geistigen Würde: d.h. der nationalen, und durch diese auch der eigenen, der persönlichen.
In ihm liegt die Quelle der Einigkeit, denn es gibt keine tiefere und dauerhaftere Einheit als im Geiste und vor dem Antlitz Gottes.
In ihm liegt die Quelle des Bewußtseins des Rechten, dieses Gefühls der eigenen Richtigkeit in seiner tiefsten und letzten Dimension, des Gefühles der eigenen bedingungslosen Verbindung und Solidarität, der eigenen Heimstätte und der eigenen echten Courage.
Der Nationalismus lehrt auch Demut - nämlich in der Betrachtung der Schwächen und der Zerknirschung des eigenen Volkes (erinnern wir uns an die Reuegedichte an Rußland von Chomjakov).
Der Nationalismus öffnet dem Menschen auch die Augen für die nationale Eigenheit anderer Völ-ker; er lehrt, andere Völker nicht zu verachten, sondern ihre geistigen Errungenschaften und ihr nationales Gefühl zu würdigen: denn auch sie sind Teilhaber an den Gaben Gottes, und sie haben diese auf ihre Weise verwirklicht.
So lehrt der vernünftige Nationalismus den Menschen, daß das Fehlen der nationalen Identität geistige Haltlosigkeit und Fruchtlosigkeit bedeutet, daß der Internationalismus eine geistige Krankheit und Quelle von Versuchungen ist und daß der Über-Nationalismus nur vom echten Nationalismus aus zu erreichen ist. Denn etwas hervorbringen, das allen Völkern herrlich erscheint, kann nur derjenige, der sich im schöpferischen Akt seines eigenen Volkes bewährt hat. Das "universale Genie" ist immer und in erster Linie ein "nationales Genie"; und der Versuch, auf dem Grund des Internationalismus "groß" zu werden und in seiner Atmosphäre zu verharren, brachte nur und wird nur vorübergehende Berühmtheiten, "Filmstars" oder planetare Bösewichte hervorbringen. Die wahre Größe ist bodenständig, das echte Genie ist national.
Es ist falsch zu sagen, daß der Nationalist an-dere Völker hasse und verachte. Haß und Verachtung machen durchaus nicht das Wesen des Nationalismus aus; sie können sich mit allem assoziieren, wenn die Seele des Menschen böse und neidisch ist. Es stimmt, daß es Nationalisten gibt, die sich von solchen Gefühlen mitreißen lassen. Aber entstellen und mißbrauchen kann man alles. Mißbrauchen kann man Sport, Gift, Freiheit, Macht, Wissen, Worte; entstellen kann man Liebe, Kunst, Recht, Politik und sogar das Gebet; dennoch fällt es keinem ein, all dies zu untersagen und auszumerzen, nur weil einige Leute die entstellten Formen für die einzig möglichen halten und die gesunden Erscheinungsformen gar nicht beachten...
Ist es möglich, die eigene Kirche zu lieben und dabei andere Bekenntnisse nicht zu verachten? Gewiß ist es möglich. Und dieser edle christliche Geist ist auch im Nationalismus denkbar.
Kann man seine eigene Familie lieben und trotzdem keine Gefühle des Hasses und der Verachtung anderen Familien gegenüber hegen? Eben dieser christlich-brüderliche Geist ist auch bei national denkenden Menschen möglich. Gerade dieser Geist liegt dem christlichen Nationalismus zugrunde.
Bei einem richtigen Verständnis des Nationalismus lösen sich religiöses und nationales Gefühl nicht voneinander und stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern sie verschmelzen miteinander und formen eine gewisse lebensvolle schöpferische Einheit, aus der und im Schoß derer die nationale Kultur heranwächst.
Das bedeutet nicht, daß das Volk Gegenstand einer religiösen Vergötterung werden soll und die Idee Gottes auf das Niveau einer irdischen Nation herabgewürdigt wird. Das Volk ist nicht Gott, und seine Vergötterung ist eine Lästerung und Sünde. Gott steht über allen irdischen Gliederungen - den rassischen, sprachlichen, psychologischen und his-torischen. Aber das Volk muß vor das Antlitz Gottes gestellt werden, und seine Kräfte müssen von oben her geweiht werden. Und wenn dies geschehen ist und wenn dies akzeptiert wurde, dann erhält sein Leben einen religiösen Sinn, und die Religion findet eine würdige Wohnstätte im nationalen Geist. Das ganze Dasein und die ganze Geschichte des Vol-kes werden dann zu einem selbständigen und originellen Dienst an Gott: der Empfang der Gaben des Heiligen Geistes und ihre Einbringung in die nationale Kultur. So ist also das Volk nicht Gott, sondern die Kräfte seiner Seele stammen von Gott. Der Pfad seines historischen Kampfes und seines Leidens ist der Weg des Aufstieges zu Gott. Und die-ser Pfad gilt dem Nationalisten als teuer und geheiligt. Aus diesem Gefühl heraus bekennt er, daß die Heimat heilig ist, daß man ihr leben muß, daß man vor dem Angesicht Gottes für sie kämpfen und wenn nötig, sogar für sie sterben muß.
Der christliche Nationalismus mißt das Leben seines Volkes und die Würde seines Volkes an ei-nem religiösen Maßstab, an der Idee Gottes und Christi, des Sohnes Gottes. Und gerade diese Dimension lehrt den christlichen Nationalisten bedingungslose Hingabe und bedingungslose Treue; sie lehrt ihn eine übernationale Betrachtungweise des menschlichen Erdkreises und der universalen Brüderschaft der Menschen. Die wahre Universalität verwirft nicht nur nicht den Nationalismus, sondern sie erwächst aus ihm und stärkt ihn, so daß der echte Nationalist in der universalen Bruderschaft nur als ein lebendiger Vertreter seines Volkes und seines nationalen Geistes auftreten kann.
Der geistige Akt, durch den das Volk seine Kul-tur schafft, ist ein nationaler Akt: er entspringt der nationalen Geschichte, er besitzt eine besondere nationale Prägung, er drückt sein Siegel dem gesamten Gehalt der nationalen Kultur auf. Der Mensch mag das vielleicht nicht bemerken; das Volk mag sich dessen nicht bewußt sein. Aber es bleibt und ist dennoch so. Und jedes Volk hat eine bestimmte Stufe geistiger Reife, auf der es die Besonderheiten seines nationalen Geistes und seiner nationalen Kultur erkennt und begreift, daß ihm diese Gaben von oben geschenkt wurden, daß es sie auf seine eigene Weise empfing, integrierte und sie nun verkörpert. Dann verwirklicht die Nation ihr religiöses Ideal, und die nationale Kultur erwächst aus beiden (bisher noch nicht bewußt gewordenen) religiösen Wurzeln. Der religiöse Glaube gibt dem Nationalismus einen Sinn, und der Nationalismus erhebt sich zu Gott. Das also sind die Grundlagen des christlichen Nationalismus.