Weihnachtsbotschaft 1992

Ein jeglicher sei gesinnt wie Jesus Christus auch war: welcher, ob Er wohl in göttlicher Gestalt war, nahm Er’s nicht als einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte Sich Selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gestalt als ein Mensch erfunden”
(Phil. 2,5-7).
Ohne durch irgendjemanden oder irgendetwas gezwungen zu sein, entäußerte Sich der Große Gott Selbst und nahm Knechtsgestalt an, nahm im jungfräulichen Schoß Wohnung und ward in der armseligen Höhle in der unscheinbaren Stadt Bethlehem geboren. Das tat Er um unseretwillen, um uns verrohter Sünder willen, die wir nicht bereit sind, wenigstens unseren Blick zu heben, um in all diesem das Wunder zu erkennen.
“Diese Entäußerung muß für uns umso erstaunlicher sein, - sagte vor über 150 Jahren der Metropolit Philaret -, als sie in einer gewissen widersprüchlichen Entsprechung zu der ursprünglichen Erhöhung des Menschen selbst steht. Denn das Wort Gottes verwendet nicht von ungefähr für die Darstellung dieser Gegensätzlichkeiten einen und denselben Ausdruck: Gestalt und Gleichnis. Schaffen wir den Menschen, sprach Gott der Schöpfer, nach unserer Gestalt und unserem Ebenbild. Und der Apostel sagt über die Menschwerdung des Gottessohnes: Er nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gestalt als ein Mensch erfunden”.
Wir können annehmen, daß im Vergleich zur Zeit des Metropoliten Philaret der Mensch unserer Tage vom Wunder der Menschwerdung Gottes noch weniger in Erstaunen versetzt wird, als damals. Rührt das nicht daher, daß der gegenwärtige Mensch jeglicher Ehrfurcht, jeglicher Achtung, verlustig, sein Herz fett geworden ist und seine Sitten verroht?
Betrachten wir unser tägliches, ja selbst kirchliches, Leben, so bemerken wir eine immer stärker werdende Abwendung von geistlichen Werten und Hinwendung zu materieller Sättigung. Jeglicher Feiertag, und insbesondere das Weihnachtsfest, wird von der zeitgenössischen Gesellschaft in erster Linie als äußeres Fest angesehen, nicht aber als innere Erneuerung oder als Anlaß dazu. Dies ist nicht einmal verwunderlich, da der heutige Mensch fast nur an Festtagen in die Kirche kommt und sich Gott zuwendet. Für ihn gibt es keinen kirchlichen Alltag, und daher verwandelt er unwillkürlich jeden Festtag in einen Wochentag. Es fehlt der Hintergrund, vor dem der Feiertag glänzt, und so verblaßt er selbst. Auf diese Weise verlieren wir das Gefühl der Erhabenheit Gottes, der Besonderheit des Feiertages, das Gefühl des Wunders. Unmerklich für die Seele schleicht sich versteinerte Gefühllosigkeit ein...
Diese Gefühllosigkeit nun hat das Weihnachtsfest auf das Niveau eines weltlichen Feiertages herabnivelliert. Doch auf wie vieles sind wir an diesem Tag berufen zu lauschen! Welche wunderbare und erhabene Annäherung bringt uns heute in das Gotteshaus! Der große Gott, Der den Menschen nach Seiner Gestalt und Seinem Ebenbild schuf und ihm dadurch die unendlichen Weiten göttlicher Allmacht und Allwissens eröffnete, steigt zu unserer Niedrigkeit herab, um uns zu bereichern - mit nichts Geringerem als Sich Selbst. Welche Größe, welcher Reichtum wird uns da geschenkt, - und was geben wir dafür im Tausch? Ja, bringen wir denn überhaupt irgendetwas außer unserer völligen Ignoranz? Erzittern wir denn wenigstens beim Gedanken an das äußerste Wunder, welches um unseretwillen geschah?
Haben wir doch längst vergessen, oder empfinden wir als abstrakte theologische Formel, daß wir nach Gestalt und Gleichnis Dessen geschaffen wurden, Der heute in unserer Gestalt erfunden wurde. Bedeutet das etwa nicht, daß der Barmherzige Herr uns schon in äußerster Weise an unsere erhabene Bestimmung erinnert? Indem Er Sich Selbst zum Weg der Belehrung macht, führt Er uns zum Bewußtsein, daß wir durch die Selbstentäußerung - indem wir uns Seiner Selbstentäußerung verneigen - unsere wahre Erhöhung erlangen...
Doch der Mensch, der diese Wahrheit nicht annimmt, hat die gesamte Natur besudelt - sowohl seine innere, wie auch die äußere, ihn umgebende. Die Verschmutzung der Luft und der Umwelt stellt lediglich einen äußerlich sichtbaren Ausdruck des inneren Zustandes des Menschen dar, der den Sinn unserer liturgischen Bitten “um Wohlbeschaffenheit der Luft, um reiches Gedeihen der Früchte der Erde und friedliche Zeiten” nicht kennt. Der Haß gegen Ausländer und Andersgläubige, der zum Tod und Leiden von Menschen in den Asylantenheimen Deutschlands, im Krieg in Bosnien, in Inguschetien, Moldavien, Nagornyj Karabach, und nicht nur dort, sondern auf dem Antlitz der ganzen Erde führt, kennt nicht unsere Bitten “um Frieden von oben und das Heil unserer Seelen”. Auch dieser Haß ist lediglich ein äußeres und grobes Spiegelbild des verheerenden und beängstigenden inneren Zustandes des Menschen, der sich von Gott entfernt und Sein Ebenbild und Sein Gleichnis eingebüßt hat.
Unser Jahrhundert hat uns mit nichts bereichert als unendlichem Schrecken und Bosheit. Sobald die grausige Fratze des Totalitarismus jeglicher Couleur verschwunden war, eröffneten sich dessen Folgen - die geistliche Verarmung und Entleerung des Menschen. Nachdem er alle geistlichen Werte verloren hat, beginnt der Mensch den gespenstischen Göttern billiger Schein-Heiligkeit nachzulaufen. Sie führen ihn dazu, sich ausschließlich mit sich selbst zu beschäftigen, was nur angesichts der Leugnung des Lebendigen Gottes und des Vorhandenseins Seines Ebenbildes im Nächsten möglich ist, oder sie lassen ihn ausschließlich in politischen und ideologischen Kategorien denken, was zur Gefangenschaft der Gedanken und zur einseitigen Betrachtung des Nächsten führt, zum Versuch, ihn für unsere eigenen angeblich “höheren” Ziele auszunützen. Deshalb ziehen der Krieg in Bosnien, die Schießereien in Moldavien die Aufmerksamkeit des ganz nach außen gekehrten sensationslüsternen Menschen nur für kurze Zeit an. Schnell und schmerzlos geht er danach zu den leeren Dingen seines alltäglichen Verbraucherdenkens oder seiner “hohen”, tatsächlich aber engstirnigen, ideologisierten Existenz über. Findet er Zeit und innere Kraft, um die Aufmerksamkeit seines Herzens auf Kranke und Alte zu lenken, Gefangene und Leidende zu besuchen, Trauernde zu trösten, Verletzten zu helfen, Rauschgiftsüchtige zu heilen? Wieviel Leid tragen in unserer Welt diejenigen, die ihre Nächsten nicht nur in Krieg und Bruderzwist, sondern ebenso in Autounfällen, am Arbeitsplatz verloren.... Wer von uns tröstet sie, erwähnt sie in seinen Gebeten? Wenn wir nicht imstande sind, ihnen eine warme Ecke in irgendeiner materiellen Höhle einzurichten, so laßt uns doch wenigstens eine solche in unseren Herzen schaffen! Die Wärme, die sie dort erwärmt, wird auch unseren Gebeten Kraft verleihen, uns dem Quell der Liebe näherbringen, der Einen Sonne - Christus. Beginnen wir diesen unseren christlichen Weg in der Familie und in der Gemeinde, auf daß von hier das Licht Christi aufleuchte und selbst die in Trauer und Leid dunkelsten Ecken unserer zerrissenen Welt erleuchte. Treten wir in das Kämmerlein unseres Herzens mit brennendem Gebet, kehren wir aus unserer Seele alles aus, was uns trennen kann, indem wir uns Dem zuwenden, Der uns vereint. Kann etwa irgendeine wie auch immer geartete weltliche Angelegenheit diese kirchliche Einheit überragen, in der wir mit einem Mund und einem Herzen Den preisen, Der “unser Friede ist, da Er aus beiden eines gemacht und die Trennwand niederriß” (Eph. 2,14)? Umarmen wir alle - die Nahen und Fernen - in der stillen Nacht der Geburt unseres Herrn, wenn wir in der Kirche unsere “alltäglichen” Gebet emporsenden “um alle Reisenden, Kranken und Leidenden, für die Gefangenen und um ihr Heil”! Ja, das sind unsere Nächsten, dein Nachbar, Bruder und Schwester, die das Ebenbild und das Gleichnis deines Schöpfers tragen! Die in den ersten Jahrhunderten der Christenheit erstellten Fürbitten sind keineswegs abstrakt - sie betreffen eben uns und unsere Umwelt.
Das zu erkennen - in seiner ganzen Tiefe und Breite - werden wir erst dann fähig, wenn wir uns selbst entäußern, unsere weltliche, vermeintliche Größe erniedrigen, um aus den Händen Gottes, Der Sich entäußerte, unser ursprüngliches Ebenbild anzunehmen, unsere Gestalt, unsere geistliche Größe. Durch diese Annahme der Versöhnung Gottes, durch den Kampf um Demut gelangt in uns jenes Wohlgefallen zur Herrschaft, von dem die Engel singen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden, und den Menschen Wohlgefallen. Amen.
MARK,
Erzbischof von Berlin und Deutschland
München, zum Fest der Geburt Christi 1992