Das christliche Weltbild der Großherzogin Maria Pawlowna und ihr Vermächtnis an die Kirche der hl. Maria Magdalena zu Weimar

Runder Tisch am 16.11.2013 in Weimar

Großherzogin Maria Pawlowna wurde am 4. (16.) Februar 1786 als Tochter des russischen Zaren Paul I und dessen Gemahlin Maria Feodorowna, geb. Prinzessin Sophie Dorothee von Württemberg, als sechstes von elf Kindern geboren. Am 22. Juli (3. August) 1804 heiratete sie in Sankt-Petersburg den Erbprinzen von Sachsen-Weimar-Eisenach Carl Friedrich, mit dem sie am 9. November des gleichen Jahres in Weimar einzog. Damit teilte sie das Schicksal ihrer vier Schwestern Alexandra, Helena, Katharina und Anna, die allesamt westeuropäische Monarchen heiraten mussten. Solche arrangierten Ehen zwischen den europäischen Königs- und Fürstenhäusern waren damals die Norm, galten zudem aus russischer Sicht im doppelten Sinne als wünschenswert, und zwar sowohl aus innen- , als auch aus außenpolitischer Perspektive. Denn einerseits wollten die Romanows durch Vermählungen ihrer Prinzessinnen mit ausländischen Herrschern verhindern, dass ambitionierte russische Fürstengeschlechter durch Einheiraten Einfluss am Zarenhof hinzugewinnen konnten, andererseits boten solche dynastischen Eheverbindungen mit westlichen Herrscherhäusern dem Russischen Reich die Möglichkeit, die eigene Machtbasis auf dem gesamten europäischen Kontinent zu konsolidieren. Letzteres wird am Beispiel Maria Pawlownas besonders deutlich, da ihre Heirat mit Carl Friedrich mit dem Aufstieg Napoleons zusammenfiel. Das revolutionäre Frankreich bedrohte nämlich mit seinen Armeen alle übrigen Monarchien in Europa, so dass die Regierungen in Ost und West ein gesteigertes Interesse zeigten, militärisch-politische Bündnisse zu schmieden. So sollte die älteste Schwester Marias, Alexandra Pawlowna, zunächst Königin von Schweden werden, doch als diese Allianz aus konfessionellen Gründen scheiterte (das schwedische Königshaus bestand auf einem Übertritt zum lutherischen Bekenntnis), heiratete sie den Palatin von Ungarn, Großherzog Joseph. Beide damaligen Großmächte – Schweden und Österreich-Ungarn galten ja nicht gerade als beste Freunde Russlands. Das Beispiel der ältesten Schwester von Maria Pawlowna, deren Heirat ja nur der Staatsräson geschuldet war, infolgedessen sie ständigen Anfeindungen seitens des Hofstaats im Habsburger-Reich ausgesetzt war, verdeutlicht, wie weit damals solcherart zustande gekommene Ehen von der romantischen und naiven Idealvorstellung einer „Märchenhochzeit“ entfernt waren.

Trotz der kühlen, durch geostrategische Zwänge bedingten politischen Kalkulation war die Ehe Maria Pawlownas mit Carl Friedrich jedoch alles andere als ein Albtraum. Auch wenn es ursprünglich keine Liebesheirat war, war diese Beziehung von Anfang an von aufrichtiger Zuneigung und gegenseitigem Respekt geprägt. Hilfreich war dabei die christliche Geisteshaltung beider Jungvermählten – des Lutheraners Carl Friedrich und der Orthodoxen Maria Pawlowna.

Für manch einen Außenstehenden mag es wie die Verwirklichung eines Traums anmuten, umgeben von Hofdamen und Dienern in einem prunkvollen Palast zu leben, in einer Prachtkutsche sitzend die Huldigungen der Untertanen entgegenzunehmen und sich praktisch jeden materiellen Wunsch erfüllen zu können. Doch am unfreisten sind in einer Monarchie die Monarchen selbst, denn sie können wohl als einzige nie aus Liebe heiraten, müssen noch dazu in einem goldenen Käfig leben, ständig fremde Menschen um sich ertragen und sich einem starren Hofprotokoll fügen. Nur wer innerlich gefestigt war, vermochte damit fertig zu werden und sein Leben in fremder, oftmals feindseliger Umgebung meistern.

Maria Pawlowna fand ihren Halt im christlichen Glauben. Einen Monat nach ihrer Ankunft in Weimar wurde eine orthodoxe Kapelle im Schloss eingerichtet, in der warmen Jahreszeit stand ihr die geräumigere Hauskirche im Haus der Frau von Stein (Ackerwand 25) zur Verfügung. Dies war die Gründung der orthodoxen Gemeinde in Weimar. Erster Pfarrer war der Beichtvater der jungen Erbprinzessin Erzpriester Nikita Jasnowskij.

Allerdings wäre es wohl auch verkehrt, das spirituelle Profil Maria Pawlownas auf pure Schicksalsergebenheit und rein äußerliche Frömmigkeit zu reduzieren. Ihr Familienleben wäre ohne die vererbten Eigenschaften wie Sanftmut, Güte, Zärtlichkeit und  Herzenswärme, sowie angeeignete Tugenden wie Respekt, Fürsorglichkeit, Toleranz und Treue um vieles problematischer gewesen. Doch es gibt darüber hinaus eine Eigenschaft der Großherzogin, die ich bei dieser Gelegenheit ganz besonders hervorheben möchte – auch und gerade, weil es m.E. für unsere Zeit von größter Bedeutung zu sein scheint. Ich meine damit das Einfühlungsvermögen der russischen Zarentochter, die hochgebildet, kultiviert und überdurchschnittlich begabt, die glitzernde Metropole Sankt-Petersburg verließ, um im provinziell-beschaulichen und verarmten Weimar ihre neue Heimat zu finden. Ich denke nämlich schon, dass ihr Gatte, ihre Schwiegereltern und ihre neue Umgebung aufgrund der ihnen eigenen ausgeprägten Wahrnehmungsgabe es sehr wohl gemerkt hätten, wenn die Tochter des russischen Zaren heimlich Ressentiments gegenüber dem Kleinstaat Sachsen-Weimar-Eisenach gehegt hätte.

 

Ich versuche meine These an wenigen konkreten Beispielen festzumachen. Als nun schon seit bald vierzehn Jahren in Weimar tätiger Priester habe ich mir nämlich sehr wohl des öfteren Gedanken darüber gemacht, warum Maria Pawlowna ihren beiden Beichtvätern (und meinen Vorgängern), den Erzpriestern Nikita Jasnowskij und Stefan Sabinin es verboten hatte, Bärte zu tragen und außerhalb des Gottesdienstraumes in priesterlicher Kleidung zu erscheinen, wie es damals in Russland üblich war. War dies eine Verleugnung ihres orthodoxen Glaubens, ihrer Herkunft, ihrer Kultur?... Mitnichten! Für mich steht fest, dass diese Vorgehensweise Ausdruck ihres psychologischen Feingefühls und ein untrügliches Indiz für ihre Hochachtung gegenüber ihrer neuen Heimat, ihrer neuen Familie und ihrer neuen Stellung war. Stellen Sie sich doch einmal vor, sie würde vor aller Welt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Andersartigkeit hervorgehoben und ohne Rücksichtnahme auf die Gefühle der neuen Untertanen ihre vermeintliche Überlegenheit betont haben („In St.-Petersburg machen wir das aber anders!“)!... Hätte sie dann die Zuneigung der Weimarer Herrscherfamilie und die Anerkennung als Landesmutter in den Augen der Thüringer gewinnen können?... Sie wäre den Weimarern vielmehr als „die Russin“, als „Zugereiste“ für alle Zeit fremd geblieben. So gelang es ihr aber dank ihrer weiblichen Intuition die Herzen der Menschen aller Gesellschaftsschichten zu erobern und dabei den Spagat zwischen Liebe zum Ursprungsland und Treue zur zweiten Heimat zu vollziehen. Und dieses Vermächtnis bleibt auch über eineinhalb Jahrhunderte nach ihrem Tod bestehen, ist für uns heute womöglich aktueller denn je. Der in Russland und Deutschland gleichermaßen bekannte Politikwissenschaftler Alexander Rahr drückte es einmal in einem Interview sinngemäß wie folgt aus: so wie man gleichzeitig Vater und Mutter liebt, so kann man sich als Migrant auch geistig und emotional zwei Ländern bzw. zwei Kulturen zugehörig fühlen.

 

Das Charisma der Großherzogin spielte sicherlich eine mehr als untergeordnete Rolle für ihre Anerkennung am Weimarer Hof. Selbst Goethe soll von ihrem Esprit und ihrer Bildung angetan gewesen sein. Am Beispiel Maria Pawlownas wird deutlich, dass Bescheidenheit und Demut in keinerlei Widerspruch zu einem gesunden Selbstbewusstsein und einer starken Persönlichkeit stehen müssen. Maria Pawlowna verstand sich nach der Thronbesteigung ihres Gemahls Carl Friedrichs (1828) als oberste Dienerin ihres Volkes, wofür sie auch ihr beträchtliches Vermögen aus der elterlichen Mitgift verwandte. Die Gründung der Witwen- und Waisenkasse, die Unterstützung zahlreicher Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen, die Sorge um das nachhaltige Wohl ihrer Untertanen – vor allem der weiblichen; dazu die Förderung der Künste, - all das war Ausdruck dessen, dass sie ihre hervorgehobene Stellung als von Gott zugewiesene Verantwortung für das Wohl ihres Volkes verstand. Damit machte sie sich gleichwohl nicht nur Freunde. Die Hofdamen mussten sich durch die obligatorische Lektüre anspruchsvoller Werke vom Müßiggang vergangener Zeiten verabschieden; eine von ihnen, die nicht standesgemäß geheiratet hatte, durfte fortan im Theater nicht mehr zusammen mit der Großherzogin in einer Loge sitzen, sondern musste mit einem Platz im Parkett für Bürgerliche vorlieb nehmen. Noblesse oblige!

 

In der heutigen Situation, da wir in Thüringen zahlreiche Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion haben, sieht die russische orthodoxe Kirchengemeinde der hl. Apostelgleichen Maria Magdalena in ihrer Gründerin ihr leuchtendes Vorbild für eine gelungene Integration in der neuen Heimat. Stärkster und wirksamster Ausdruck der Bindung an das Ursprungsland ist bei uns der orthodoxe Glaube, der freilich nicht nur in der sturen Bewahrung von Riten und Gebräuchen zum Ausdruck kommen muss (z.B. in der alljährlichen Segnung der Osterspeisen), sondern im Festhalten an traditionellen, unwandelbaren Werten seine Bestätigung findet. Und diese Werte sind das, was wir mit großem Selbstbewusstsein und gleichzeitiger Hochachtung gegenüber anderen traditionellen Wertvorstellungen vertreten wollen. Wir sind der Ansicht, dass der Austausch der Kulturen keine Einbahnstraße ist (das hieße nämlich Assimilation statt Integration!), sondern sich durch Synergieeffekte für beide Seiten positiv auswirken kann und soll. Kultur ist in unseren Augen nicht bloß Folklore, die es in eigens gegründeten Initiativgruppen als Selbstzweck zu erhalten gilt; Kultur ist untrennbar verbunden mit einer nationalen oder auch über-nationalen Identität, einer entsprechenden, an moralischen Werten ausgerichteten Lebensweise, die es den Einwanderern aber ermöglicht, sich mit diesen geistigen Schätzen in die hier bereits beheimatete Gesellschaft einzubringen. Gewiss, wir sind der felsenfesten Überzeugung, dass gläubige Russen, Ukrainer, Weißrussen, Moldawier und Georgier vom westlichen Wertekanon nur profitieren können; aber für uns gilt auch unumstößlich die Tatsache, dass wir niemandem gegenüber Minderwertigkeitskomplexe zu haben brauchen, dass wir durchaus in der Lage sind, dem Westen eine adäquate Gegenleistung anzubieten. Wir wollen und können uns auch am kulturellen Gewinnungsprozess hierzulande beteiligen, wir wollen und können den geistigen und spirituellen Reichtum dieses Landes vermehren helfen. Es steht doch außer Zweifel, dass Bilingualität ein Kind reicher, nicht ärmer macht. Mehr noch, wenn Migrantenkinder die kulturelle Identität ihrer Eltern und Großeltern bewahren und sich gleichzeitig die Geisteshaltung ihres neuen Heimatlandes aneignen, werden sie niemals der Bigotterie oder Ignoranz anheimfallen. Sie werden alles aus zwei Blickwinkeln betrachten und entweder je nach Situation die eine oder andere Sichtweise für sich auswählen, oder aber bemüht sein, einen Ausgleich zwischen beiden Denkmustern zu schaffen. Sie werden in ihrer frühkindlichen und pubertären Entwicklung dadurch weiter beflügelt, so dass die Verbundenheit zur „alten“ Heimat sich im späteren Berufsleben in bare Münze umwandeln lassen wird. Durch wirklich identitätsstiftende Integration wird Stumpfsinn und Fanatismus der Nährboden entzogen. Hierbei kommt dem christlichen Glauben eine zentrale Rolle zu. Eine dergestalt funktionierende Integration ist aber nur möglich, wenn beide Seiten mitmachen und voneinander zu lernen bereit sind.

Wenn beide Kulturen sich im gegenseitigen Respekt und Vertrauen - wie im Weimarer Mikrokosmos zwischen Carl Friedrich und Maria Pawlownas geschehen, - ergänzen, kann dies zudem – und das lehrt uns die Geschichte unseres Kontinents - nur der Festigung von Frieden und Wohlstand im gemeinsamen Haus Europa dienen. Überheblichkeitsdenken und Ausgrenzung hingegen führen unweigerlich zu Konflikten. Wer seine Augen nicht gänzlich vor den weltpolitischen Tatsachen verschließt, der kann das an der aktuellen geostrategischen Gemengelage nur zu deutlich erkennen.

 

Maria Pawlowna öffnete vor mehr als zweihundert Jahren die Tür, durch welche nach ihr tausende orthodoxe Gläubige den Weg nach Thüringen gefunden haben. Heute zählen ganz selbstverständlich Griechen, Serben, Rumänen, Bulgaren, aber auch orthodoxe Christen aus dem arabischen Raum sowie vorübergehend auch Studenten und Stipendiaten aus Asien, Amerika, Afrika und Ozeanien zu unserer Kirchengemeinde. Trotz der unvermeidlichen Sprachbarriere kommen sie gerne in die als Grabeskirche für Maria Pawlowna errichtete Kapelle auf dem Historischen Friedhof und fühlen sich bei uns als Teil einer christlichen Familie. Ich sehe das jede Woche an den leuchtenden Augen all dieser Menschen am Ende des Gottesdienstes.

Insofern sind wir dankbar, dass wir dank eines unbefristeten Vertrages mit der Klassik Stiftung Weimar die Kirche uneingeschränkt gottesdienstlich nutzen dürfen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich sowohl der Klassik Stiftung als auch der Stadt Weimar für die wirklich offenherzige und vertrauensvolle jahrelange Zusammenarbeit danken. Es hat nicht einen Fall gegeben, dass der Präsident der KSW Herr Seemann bzw. der Oberbürgermeister Herr Wolf nicht ein ein offenes Ohr für die Bedürfnisse unserer Gemeinde gehabt hätten. Vielen herzlichen Dank dafür!

 

Wir verstehen uns aber nicht bloß als Weimarer Kirchengemeinde. Als einziges orthodoxes Gotteshaus in ganz Thüringen würden wir gerne auch ein wenig in den Blickpunkt der thüringischen Landespolitik rücken wollen. Die seit zweihundert Jahren in Thüringen beheimatete orthodoxe Gemeinde nutzt zwar ein prächtiges Gottesdienstgebäude, verfügt aber über keinerlei weitere Räumlichkeiten, die ein normal funktionierendes Gemeindeleben ermöglichen würden. Es gibt weder einen Raum für seelsorgerische Gespräche (diese müssen notgedrungen im Kirchenraum stattfinden, wo man aber nie ungestört sein kann), noch einen Saal für Veranstaltungen jeglicher Art. So hinken wir in Sachen Sozialarbeit (Kinder-, Jugend- und Seniorengruppen) hinterher, können unsere über den rein liturgischen Bereich hinaus gehenden Aufgaben nicht voll umfänglich wahrnehmen.

Leider erfahren wir als in Thüringen historisch verankerte religiöse Gemeinschaft im Vergleich zu anderen keinerlei Zuwendungen. Dabei bitte ich gar nicht um permanente finanzielle Unterstützung aus Steuergeldern – die Ressourcen der Gemeinde reichen  gerade aus, um das Gotteshaus in Weimar zu unterhalten und um für den Unterhalt des Priesters aufzukommen - meine inständige Bitte an die Landespolitik richtet sich dahingehend, dass wir bei der Schaffung eines Gemeindezentrums in der Landeshauptstadt auf Hilfe angewiesen sind, z.B. durch Übereignung, Umbau oder Sanierung eines leerstehenden Kindergartens bzw. eines anderen für diesen Zweck geeigneten Gebäudes. Erfurt ist bis dato nämlich die einzige Landeshauptstadt in Deutschland ohne eigene orthodoxe Kirchengemeinde! Nicht zuletzt aus diesem Grunde bin ich der Ansicht, dass sich auch in Zeiten permanent knapper Kassen eine einmalige Investition in eine orthodoxe Begegnungsstätte für alle Seiten rechnen würde. Hierzu könnten wir zumindest ins Gespräch kommen und bei vorhandenem Wohlwollen sicherlich die Möglichkeiten einer zielführenden Zusammenarbeit prüfen. Wie gesagt, wir wollen nicht am finanziellen Tropf des Freistaats hängen, würden uns aber über etwas mehr Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Kooperationsbereitschaft von Seiten der politisch Verantwortlichen freuen. Dies wäre, so denke ich, ein wertvoller Beitrag zur Bewahrung des Vermächtnisses der Großherzogin Maria Pawlowna, die seinerzeit Unermessliches für die heutige Blüte Weimars und Thüringens geleistet hat und somit zu einer herausragenden Brückenbauerin zwischen Ost und West wurde.