Predigt zum 10. Herrentag nach Pfingsten (1 Kor. 4:9-16; Mt. 17:14-23) (21.08.2022)
Liebe Brüder und Schwestern,
die Heilung des mondsüchtigen Jungen unmittelbar nach dem Abstieg vom Berg der Verklärung durch unseren Herrn Jesus Christus wurde uns in maximaler Einmütigkeit von den drei Synoptikern überliefert. Wir erkennen hier abermals, dass sich die Heilungswunder unseres Herrn durch diverse Details voneinander unterscheiden – sowohl im Hinblick auf die Vorgehensweise des Herrn, als auch durch die äußeren Begleitumstände. Nur der Herr weiß zur Gänze, warum dies so und nicht anders vonstatten geht. Was wir jedoch wissen, ist, dass alles jedes Mal zum Heil der Menschen geschieht und ein untrüglicher Ausdruck der grenzenlosen Liebe des Herrn zu den Menschen ist. Liebe kann aber nicht ohne Strenge, manchmal auch Härte, einhergehen (vgl. Hebr. 12:4-13).
Hier, am Fuße des Berges Thabor, erfährt der Herr vom Vater eines besessenen Jungen, dass die Jünger des Herrn während Seiner Abwesenheit dessen Sohn nicht zu heilen imstande gewesen waren – sie, die ja kurze Zeit vorher, von Christus ermächtigt, Dämonen ausgetrieben und alle Krankheit im Volke geheilt hatten (s. Mk. 6:13). Die Reaktion des Herrn darauf: „O du ungläubige und unbelehrbare Generation! Wie lange muss ich noch bei euch sein? Wie lange muss Ich euch noch ertragen? Bringt ihn her zu Mir!“ (Mt. 17:17). Die Meinungen der Kommentatoren gehen hier auseinander bezüglich dessen, wer mit der „ungläubigen und unbelehrbaren Generation“ gemeint ist. Das Volk im Allgemeinen, die Jünger im Besonderen oder gar die Dämonen? Fast mit dem gleichen Atemzug sagt Christus ja: „Diese Art kann nur durch Gebet und Fasten ausgetrieben werden“ (Mt. 17:21), womit nur die Dämonen gemeint sein können. Und nüchtern betrachtet waren die Jünger keineswegs ungläubig, was freilich ebenso auf die Dämonen zutrifft (s. Jak. 2:19). Somit muss wohl das Volk Gottes als Adressat dieser Schelte des Herrn angesehen werden – im direkten Sinne Israel zu biblischer Zeit, im indirekten Sinne aber wir Christen. Wie dem auch sei, unstrittig ist, dass es den Jüngern an Glauben mangelte (s. 17:19-20). Doch worin äußert sich der Kleinglaube der Getreuen Gottes oder auch der faktische Unglaube vieler nomineller Christen damals wie heute?
Mir scheint, dass wir alle – jeder auf seine Art und Weise und im unterschiedlichen Maße – uns zwar als gläubige Christen bezeichnen, aber nicht nach den Geboten des Herrn leben. Das Evangelium kennt ja keine peniblen Vorschriften nach Art des jüdischen Mizwot mit seinen 365 Verboten und 248 Geboten, denn „nachdem der Glaube gekommen ist, stehen wir nicht mehr unter dieser Zucht“ (Gal. 3:25). Im Neuen Testament spricht der Herr vielmehr davon, dass Gott „im Geist und in der Wahrheit“ angebetet werden will (Joh. 4:23,24). Aber ein Leben nach dem Geist setzt ja gerade ein viel höheres Maß an Verantwortung, Ehrfurcht und Freimut vor Gott voraus als das bloße Befolgen irgendwelcher Gesetzesvorschriften (das trifft übrigens auch auf unsere angewandte Volksfrömmigkeit zu). Unser Problem ist oftmals – wie schon zu Zeiten des Alten Bundes – nicht die Missachtung ritueller Vorschriften, sondern die Herzenskälte Gott gegenüber (s. Hos. 6:6, Am. 5:21-24; Mi. 6:8; vgl. Mt. 9:13; 12:7). Wir sollen Gottes Tempel sein, in dem der Geist Gottes wohnt (s. 1 Kor. 3:16-17; vgl. Joh. 14:23), doch stattdessen verkommen unsere Leiber zu willfährigen Behältnissen aller möglicher seelischer und körperlicher Leidenschaften. Wir sollen Schätze im Himmel sammeln (s. Mt. 6:19-21; Lk. 12:33-34), doch stattdessen sind unsere Bestrebungen vornehmlich darauf ausgerichtet, uns in dieser vergänglichen Welt gut einzurichten. Wir sollen nicht zwei Herren dienen (s. Mt. 6:24; Lk. 16:13), lieben Gott aber nicht aus ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und mit ganzer Kraft, sondern schwelgen im Gedanken und mit den Gefühlen allzu oft in dieser Welt. Irdische Sorgen beanspruchen unser ganzes Wahrnehmungsvermögen, während wir unseren religiösen „Pflichten“, wenn überhaupt, nur widerwillig nachkommen. Das alles trifft, wohlgemerkt, auf einen Großteil der „praktizierenden“ Christen zu, die leider vergessen, dass das Wichtigste im Gesetz „Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue“ (Mt. 23:23) ist – von den nominellen Christen, welche die überwiegende Mehrheit bei uns Orthodoxen darstellen, reden wir hier gar nicht.
Wenn also die Jünger den mondsüchtigen Jungen nicht zu heilen vermochten, dann nicht deshalb, weil sie zuvor zu wenig gebetet hatten, sondern wohl deshalb, weil sie das Leid des armen Jungen und seines bemitleidenswerten Vaters nicht zu ihrem Leid gemacht hatten (vgl. 2 Kor. 1:6). Doch nur so konnten sie, können wir zu wahrhaften Nachfolgern Christi werden.
Deshalb soll unser Glaube wie ein Senfkorn sein, so der Herr (s. Mt. 17:20). Er soll ständig wachsen und andere dadurch an der Güte Gottes teilhaben lassen (vgl. Mt. 13:31-32; Lk. 13:19). Wir kennen eine Vielzahl von Heiligen, auf welche dies zutrifft (z.B. der hl. Seraphim, der von der Erlangung des Heiligen Geistes sprach, wodurch tausende um uns herum gerettet werden), ganz gleich, ob jemand von ihnen nun buchstäblich Berge versetzt hat oder nicht. In der Endzeit wird es allerdings einen geben, der, so die heiligen Väter, durch Zuhilfenahme eines gigantischen dämonischen Täuschungsapparat die Massen verführen wird. Vor ihm sollen wir uns in Acht nehmen (s. Mt. 24:24). Gott aber legt es nicht auf äußere Effekte an. Der „Berg“, den wir versetzen müssen, befindet sich in unserem Herzen. Wir können Großes schaffen, wenn wir uns in den Geboten unseres Herrn befleißigen. Dann werden nicht wir wirken, sondern Christus in uns (vgl. Gal. 2:20). „Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen“ (Gal. 5:16), weshalb wir heute mehr denn je Gebet und Fasten benötigen (vgl. Mt. 17:21). Amen.