Predigt zum 5. Sonntag nach Pfingsten (08.07.2012) (Mt. 8, 28 - 9, 1)
Liebe Brüder und Schwestern,
die heutige Evangeliumslesung befasst sich mit der Heilung zweier Besessener im Lande der Gadarener (Mt. 8, 28 - 9, 1). Als der Herr mit Seinen Jüngern am anderen Ufer des Sees ankommt, eilen Ihm zwei gemeingefährliche Besessene aus den Grabhöhlen entgegen. Doch die Dämonen erkennen sofort, mit Wem sie es zu tun haben und flehen ihren Schöpfer an, sie nicht schon „vor der Zeit“ (8: 29) in die für sie bereitete Feuersbrunst zu schicken. Der Herr gewährt ihnen ihre Bitte und lässt sie in die unweit von diesem Ort weidende Schweineherde fahren, worauf sich die ganze Herde in den See stürzt.
Aus dieser kurzen Begebenheit lässt sich für uns so manche Lehre ziehen:
Ohne Gottes Zulassung können Dämonen dem Menschen nichts anhaben (s. Hiob 2: 6). Dämonen sind ja auch nur Engel, also geistige Wesen, die jedoch anstatt Gottes Willen zu erfüllen, ihrem eigenen Hochmut frönen. Aus dem uns überlieferten Dialog mit Christus erkennen wir, dass den Dämonen durchaus bewusst ist, welches Schicksal sie am Ende der Tage erwartet. Doch bis es soweit ist, versuchen sie so viel Schaden anzurichten, wie nur möglich, sprich, möglichst viele Menschen ins Unheil zu stoßen. Psychologisch ist das aus unserer Sicht gar nicht oder nur sehr schwer zu erklären. Aber im Grunde ist es doch recht einfach: wer die Liebe in sich trägt, der wünscht doch allen Geschöpfen nur das Gute, vor allem aber die Erlangung des Seelenheils. Die Dämonen aber stehen für die Negation des Guten, das von Gott erschaffen wurde (s. Gen. 1. 31), weshalb sie keine Liebe empfinden können. Da sie selbst schon zur ewigen Strafe verdammt sind, können sie nicht mit ansehen, wie andere Geschöpfe die unendliche Wonne und Glückseligkeit erlangen. Ihr Hochmut hindert sie daran, Buße zu tun.
Für uns heisst das einerseits, dass wir die Dämonen nicht zu fürchten brauchen, solange wir uns in der Gemeinschaft mit Christus befinden, denn als wir in diese Gemeinschaft aufgenommen wurden, wurde in bezug auf den Teufel gesagt, dass er „nicht einmal über die Säue Macht besitzt“. Andererseits müssen wir uns gleichwohl dessen bewusst sein, dass der Widersacher nichts unversucht lassen wird, um uns zu täuschen, ängstigen, verwirren oder zu verführen. Wie er selbst durch den freien Willen von Gott abfiel, können auch wir durch Hochmut, Ignoranz oder Zügellosigkeit leicht zu einer Beute des Bösen werden.
Ein offenkundiges Beispiel für diese vom Teufel eingegebene Eigenwilligkeit stellen die Bewohner der Stadt Gergasa dar. Sie missachteten das Gesetz, indem sie z.B. Schweine hielten. Die Folge ihrer Untreue war u.a. die Besessenheit der beiden Männer, die eine Gefahr für die Bewohner der Stadt darstellte. Nun aber werden die Gesetzesübertreter von Gott heimgesucht – und das ohne Zorn, ohne ein Wort der Anklage, wie es die Juden häufig zu hören bekamen, sondern voller Sanftmut und Liebe. Er heilt und rettet die Besessenen. Er gibt zu verstehen: „Ich bin gekommen, um euch von der Macht der Dämonen zu erlösen!“ Doch die Gadarener weisen die von Gott ausgestreckte Hand zurück, bitten den Herrn, ihr Land schleunigst zu verlassen.
Handeln wir nicht auch so, wenn sich in uns bei Konfliktsituationen der erste, verständliche und womöglich berechtigte Zorn gelegt hat, wir aber danach nicht der Stimme Gottes in uns folgen und vergeben, sondern uns willig den dämonischen Leidenschaften des Hasses, der Mißgunst, der Vergeltungssucht wider besseres Wissen hingeben – und das noch vor Gott und uns selbst zu rechtfertigen versuchen?
Und kommt uns die Handlungsweise der Gadarener nicht bekannt vor, wenn wir daran denken, wie in unserer aufgeklärten, modernen Gesellschaft einzig und allein das Christentum verspottet, beschimpft, verleumdet und seit geraumer Zeit offen angegriffen wird, während alle anderen Religionen, Weltanschauungen und Lebensformen durch das Label der „Political Correctness“ quasi gesetzlich geschütz sind?
Ich überflog mal im englischsprachigen Internet eine Liste aller Amokläufe, die es in den letzten ca. 30 Jahren an amerikanischen Schulen und Universitäten gegeben hat (über etliche Seiten, mit genauer Angabe des Ortes, des Datums und der Opferzahlen). Wie üblich schloß diese Auflistung des Schreckens mit den Worten: „Gott, wo warst Du?“ - Doch diesmal wurde dem „Angeklagten“ das Recht eingeräumt, zu antworten: „Weshalb schimpft ihr auf Mich? Ich bin doch von staatlichen Schulen verwiesen worden.“
Mir scheint hier noch ein Aspekt erwähnens- bzw. überlegenswert zu sein. Die Juden zur Zeit Jesu Christi, die das Gesetz hatten und es zumindest nach außen hin erfüllten, grenzten sich von den sie umgebenden Nachbarstämmen – Ammonitern, Peräern, Idumäern, Dekapolitern, Trachonitern, Samaritern und sogar Galiläern – ab. Warum teilen sie den Schatz, den sie haben, nicht mit anderen? Warum diese Verachtung? Handeln sie hier wie Kinder Gottes, oder ähnelt ihre Handelsweise und Denkstruktur derjenigen der Dämonen?
Mir scheint, dass auch bei uns Orthodoxen in Deutschland zumindest teilweise ein Mentalität herrscht, die eine Abgrenzung von der Gesellschaft befördert und ein unverhohlenes Überlegenheitsgefühl gegenüber der Mehrheit der uns umgebenden Menschen suggeriert, in Wirklichkeit aber nur die eigene Schwäche übertünchen soll. Wer hat denn etwas zu fürchten? – Derjenige, der ein reines Gewissen hat und und im Besitz der Wahrheit ist, fürchtet sich nicht vor dem Dialog. Wenn aber nur so getan wird, als ob man über den Dingen steht, - so eine Geisteshaltung wird niemals positive Ergebnisse in den Köpfen und Herzen der Mitmenschen zeitigen.
In der Konsequenz entsteht eine Bigotterie, die derjenigen der Juden zur Zeit Christi bis ins Detail ähnelt. Ich will ein Beispiel nennen: als ich noch ein junger Mann war, nahm ich mal mit meiner jüngeren Schwester an einem weltweiten Treffen der russischen Exiljugend in den USA teil. Es war Sommer, und in der schwülen Hitze der New Yorker Vorstadt trugen die Mädchen alle sehr knappe Höschen und sehr kurze Hemden mit enblösten Schultern. Für den Nachmittag sagte sich der Metropolit zum Jugendtreffen im vollklimatisierten Gemeindesaal an. Meine Schwester, die natürlich wusste, dass in der russischen Diaspora westlich des Atlantiks in den Kirchen strengere Regeln herrschen als in Europa, zog eine Bluse ohne Ausschnitt an, behielt aber ihre Shorts an, da nicht die Rede von einem Treffen in der Kirche war. Kaum am Orte des Geschehens angelangt, vernahm sie einen (gut gemeinten) Rüffel von einer der Organisatorinnen des Treffens: „So kannst du aber nicht vor dem Vladyka erscheinen!“ - Überflüssig zu erwähnen, dass alle anderen Mädels schön brav in knielangen Röcken mit für den „Ernstfall“ paraten Kopftüchern bereitstanden, um den Oberhirten in ihrer Mitte willkommen zu heißen... --- …. --- … --- … Ja, liebe Leute, das ist die beste Anleitung zum Pharisäertum! Da wird nämlich etwas vorgegaukelt, was mit der Realität überhaupt nichts zu tun hat... Die Eltern wollen es vermeiden, dass der weißhaarige Metropolit ihre Kinder so sieht, wie sie wirklich sind! … Es geht hierbei ja gar nicht um die Kleidung an sich, sondern um das, was sich dahinter verbirgt. Wir fuhren nämlich im Verlauf des vierzehntägigen Jugendtreffens übers Wochenende nach Jordanville, inkl. Übernachtung in der Klosterherberge (etwa 1 km vom Kloster entfernt). Als die Jugendlichen, die gerade noch wenige Tage zuvor so überaus lieb und nett die Hand des Metropoliten geküsst und die eben erst brav die dreistündige Vigil im Kloster buchstäblich überstanden hatten, endlich unter sich waren, begann eine Orgie mit ohrenbetäubender Musik, Geschrei, Gelächter, Gejohle, Gepolter etc. Diejenigen, die schlafen wollten, wurden ausgelacht, wir drückten bis zum Morgen kein Auge zu, die Herberge glich danach einem Saustall. Zur Sonntagsliturgie waren aber alle lammfromm in der Klosterkirche, wenn auch, seltsamerweise, viel gegähnt wurde. Das Gleiche wiederholte sich einige Zeit später an einem anderen Ort in einem Motel, so dass auch Außenstehende sich ein Bild von der wohlerzogenen russischen Exiljugend machen konnten.
Und diese schizophrene Mentalität übertrug sich, folgerichtig, auch auf die Seminaristen, die Priesteranwärter. Der Schein war wichtiger als das Sein. Und so verharrte man im selbstgewählten Ghetto.
Was ich damit sagen will? - Wir tragen unseren Teil der Verantwortung für das Land, in dem wir wohnen, für die Gesellschaft, in der wir leben. Gott wird uns sicherlich nicht für alle Verfehlungen anderer zur Rechenschaft ziehen, aber Er wird uns fragen, ob wir wirklich alles getan haben, um unseren Nachbarn Sein Heil näherzubringen, ob wir nicht sogar die Tür vor der Nase derer verschlossen haben, die Einlass begehrten. Die orthodoxen Kirchen (nicht nur die Russische) im Westen tun sich schwer, zu erkennen, dass in 20-30 Jahren nur noch wenige ältere Herrschaften in unseren Gemeinden die Sprache ihrer Vorfahren verstehen werden. Trotzdem betreiben wir seit Jahren im Grunde unverändert dieselbe Brauchtumspflege, wie die Landsmanschaften der Siebenbürger Sachsen, der Banater Schwaben oder der Egerländer. Nichts gegen Trachtenvereine, aber - ist das unsere Mission?! Wenn wir in Deutschland, Frankreich oder in den USA leben, sind wir als Orthodoxe berufen, Teil der Gesellschaft zu werden. Im Umkehrschluss würde das dann nämlich bedeuten, dass die Gesellschaft ihrerseits zum Teil orthodox wird. Und je authentischer, je offener dieses Teilweise sein wird, desto größer wird das Verlangen unserer Mitmenschen sein, sich mit dem Leben der Kirche Christi auseinandersetzen zu wollen – ob zwecks Polemik oder aus Sympathie, ob mit Wohlwollen oder aus Abneigung, ob aus purer Neugier oder auch aus tiefer innerer Überzeugung - das sind die Bedingungen, die Umstände, in denen das Wort Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes schon immer verkündet worden ist. Heute lasen wir: Das Wort ist dir nahe, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen. Gemeint ist das Wort des Glaubens, das wir verkündigen, denn wenn du mit deinem Mund bekennst: „Jesus ist der Herr“ und in deinem Herzen glaubst: „Gott hat Ihn von den Toten auferweckt“, so wirst du gerettet werden. Wer mit dem Herzen glaubt und mit dem Mund bekennt, wird Gerechtigkeit und Heil erlangen. Denn die Schrift sagt: „Wer an Ihn glaubt wird nicht zugrunde gehen“. Darin gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Alle haben denselben Herrn; aus Seinem Reichtum beschenkt Er alle, die Ihn anrufen. Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden. Wie sollen sie nun Den anrufen, an Den sie nicht glauben? Wie sollen sie an Den glauben, von Dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt? Wie soll aber jemand verkündigen, wenn er nicht gesandt ist? Darum heißt es in der Schrift: Wie sind die Freudenboten willkommen, die Gutes verkündigen! (Röm. 10: 8-15).
Nicht jeder von uns hat die Gabe zum Apostel, Propheten oder Lehrer (s. 1 Kor. 12: 29). Aber wir alle zusammen sind ein Leib (s. 12: 20), und „Gott hat jedes einzelne Glied so in den Leib eingefügt, wie es Seiner Absicht entsprach“ (12: 18). Das ist Gottes Anspruch an uns. Wollen wir also das Unsrige tun.
Amen.