Orthodoxie in der Volksrepublik China: Wege der Wiederherstellung des religiösen Lebens im Rahmen der kirchlichen Autonomie
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Orthodoxie in der Volksrepublik China: Wege der Wiederherstellung des religiösen Lebens im Rahmen der kirchlichen Autonomie
Die chinesische Gesellschaft steht heute vor einer religiösen Wiedergeburt. Die neuen günstigen sozialen Bedingungen bieten die Chance zur Wiederbelebung der Chinesischen Orthodoxen Autonomen Kirche, derer Mutter die Russische Kirche ist. Priester Dionyssy Pozdnyayev nennt die Wege der Wiederherstellung des religiösen Lebens im Rahmen des Modells der kirchlichen Autonomie.
Die komplizierten Reformprozesse der beiden vergangenen Jahrzehnte sind für unsere Landsleute in Russland unvergesslich, da sie nicht nur die politische Landschaft des Landes und seine Sozialordnung und Wirtschaft radikal verändert haben, sondern auch durch eine eigene religiöse Dimension geprägt waren. Unter den neuen Bedingungen ihres historischen Daseins hat die Russische Orthodoxe Kirche dem missionarischen Dienst hohe Priorität zugedacht. Die wachsende Aufmerksamkeit vieler Bischöfe und Priester und auch der zahlreichen Herde der Russischen Orthodoxen Kirche gegenüber China – unbestritten ein großes Land, das nicht nur als Nachbar eine wichtige Bedeutung für Russland hat, sondern auch weltweit zunehmend wichtiger wird – ist Zeichen der Wiederbelebung unseres kirchlichen Bewusstseins. Dieses ist nicht auf das eigene Territorium beschränkt, sondern erstreckt sich weiter, um nach dem Gebot des Heilands „alle Nationen zu Jüngern zu machen“ (Mt28,19), unter denen auch das große chinesische Volk ist.
Die letzten beiden Jahrzehnte waren auch in China von einer bemerkenswerten Wiederbelebung des religiösen Lebens geprägt. Überraschend für die Anhänger des Marxismus, nach dem die Religion ein aussterbendes Phänomen der unentwickelten Gesellschaft sei, nehmen nach 60 Jahren antireligiöser Innenpolitik in China 95% der Landesbevölkerung regelmäßig an diversen religiösen Ritualen teil. Entgegen den Erwartungen der Regierung, nach denen bis zum Ende der 1970er Jahre jegliche religiöse Leben hätte aussterben müssen (und trotz realer Versuche, diesen Vorgang zu beschleunigen), haben sich die religiösen Traditionen gehalten und seit der Politik der Reformen und der Offenheit wieder ausgebreitet. Sie spielen heute nicht nur eine signifikante innenpolitische Rolle, sondern haben sich auch als wichtiger Faktor für die internationalen Kontakte Chinas erwiesen.
Nach Jahrzehnten der strengen Regulierung und Unterdrückung jeglicher Form öffentlichen religiösen Lebens wurden zahlreiche religiöse Einrichtungen wiedererrichtet und auch Klöster, Tempel und Moscheen wiederhergestellt. Dies verdankt sich den sozialen Reformen, die mit der raschen wirtschaftlichen Entwicklung Chinas einhergehen. Die Regierung des Landes bemüht sich zwar noch heute, die politische Kontrolle über das religiöse Leben der Gesellschaft zu behalten, und hält gesetzliche Einschränkungen aufrecht, aber in allen Teilen des Landes ist eine breite religiöse Aktivität des Volkes sichtbar, die die Kraft der religiösen Traditionen des Buddhismus, des Islams und der Taoismus entwickelt. Überall sind Geistliche zu sehen, die religiöse Rituale und Zeremonien verrichten, wiedererrichtete Heiligtümer, Gemeinden, die ein intensives Leben führen und mit Betenden erfüllt sind, sowie geistliche Lehranstalten, die Studenten offen stehen. Ein integraler Bestandteil der religiösen Landschaft sind Christen, deren Gesamtzahl heute, nach unterschiedlichen Einschätzungen, zwischen 35 und 70 Millionen beträgt (eine genaue Statistik ist dadurch erschwert, dass die meisten Christen den nicht-offiziellen kirchlichen Einrichtungen Chinas angehören).
Nach der Gründung der Volksrepublik China wurde die Organisation der religiösen Einrichtungen ein Hauptprinzip der Gesetzgebung. Religiöse Einrichtungen Chinas durften und dürfen nicht von außerhalb des Landes verwaltet werden. Deshalb wären Existenz und Aktivitäten der Russischen Orthodoxen Kirche auf dem Territorium Chinas unmöglich (auch die offizielle Katholische Kirche ist in China administrativ nicht dem Vatikan unterordnet). Aber dafür gibt es eine autonome Chinesische Orthodoxe Kirche, die 1957 gegründet wurde und in deren Kompetenz alle orthodoxen Gemeinden und Gotteshäuser auf chinesischem Territorium übergegangen sind. Seitdem gibt es in China (außerhalb den Territorien von Hongkong und Macao) keine anderen orthodoxen Gemeinden als jene der Chinesischen Orthodoxen Kirche, und es darf auch keine anderen geben (über die Jurisdiktionszugehörigkeit von Gemeinden, die sich auf exterritorialem Gelände befinden – etwa bei diplomatischen Vertretungen – wird in Übereinstimmung mit den Prinzipien des kanonischen Rechtes entschieden). Zum Zeitpunkt der Erhaltung der Autonomie waren einige dieser Gemeinden nach Zusammensetzung und Sprache vorwiegend russisch (insbesondere in den Dorfregionen vonXinjiang und der Inneren Mongolei), während anderswo (v.a. in Peking und Shanghai) die Gottesdienste von chinesischen Geistlichen auf Chinesisch zelebriert wurden.
Nachdem die Chinesische Orthodoxe Kirche zwangsläufig durch die politischen Umstände autonom geworden war, ohne auf diese Selbstständigkeit institutionell vorbereitet zu sein, musste sie ohne Hilfe von außen über die Organisation ihres Gemeindelebens entscheiden – vor allem für die chinesische Herde. Laut dem Gesetz Chinas, das die religiösen Rechte ausländischer Staatsangehöriger, die sich auf dem Territorium des Landes befinden, schützt, dürfen Ausländer an Gottesdiensten, die von chinesischen Gemeinden verrichtet werden, teilnehmen. Das betrifft also u.a. Russen, die in China vorübergehend oder ständig wohnhaft sind – sie dürfen Mitglieder in Gemeinden bei offiziellen Gotteshäusern der Chinesischen Orthodoxen Kirche werden. Nichtsdestotrotz ist das kirchliche Leben der orthodoxen Gemeinden in China kaum als normal anzusehen. Ursache sind die nicht überwundenen Probleme der Vergangenheit.
Die geschichtliche Periode der Geburt der Chinesischen Autonomen Orthodoxen Kirche war für ihre Entwicklung nicht günstig. Die Kirche, die noch Hilfe von außen benötigte, hat es wegen des ständigen Widerstandes der Regierung nicht geschafft, ein Lokalkonzil durchzuführen. Deswegen kam es auch nicht zur Wahl Bischofs Basil (Schuang) vonPeking als Oberhaupt der Kirche, und ihr kanonischer Status ist eher Theorie als Praxis.
Die juristische Lage der Kirche war sehr verletzlich: sie hatte in der damaligen Zeit noch keine „Orthodoxe Patriotische Assoziation“, die eine vom Staat anerkannte Struktur gewesen wäre, wodurch sich kirchlich-staatliche Beziehungen hätten aufbauen lassen (derartige Vereine, die die Organisationsstrukturen gewissermaßen verdoppelten, wurden in derVR China von Katholiken, Protestanten, Muslimen, Buddhisten und Taoisten eröffnet). So hatte die Kirche in China nicht die Möglichkeit, von der Regierung auf nationaler Ebene anerkannt zu werden und ist juristisch ungeformt geblieben, eine Gruppe vereinzelter Gemeinden in verschiedenen Landesteilen. Bei der Entscheidung über Eigentumsprobleme sind ebenso Fehler begangen worden. So hat die Kirche selbstständig auf ihre Eigentumsrechte verzichtet. Alle Immobilien wurde am 30. März 1956 von Erzbischof Viktor (Swjatin) von Peking an die Regierung der VR China übergeben, in der Hoffnung auf eine wohlwollende Einstellung gegenüber der Chinesischen Orthodoxen Kirche. Dieses Kalkül ging jedoch nicht auf (zum Vergleich: weder die Katholische noch die Protestantische Kirche hatte ihr Eigentum zur Nationalisierung abgegeben – es wurde stattdessen beschlagnahmt, was auch entsprechend festgehalten wurde, so dass es heute nach dem Ende der „Kulturrevolution“ zu partiellen Rückgaben gekommen ist.
Die Vereinzelung der orthodoxen Gemeinden und ernsthafte Meinungsverschiedenheiten zwischen Bischof Basil (Schuang) vonPeking und Bischof Simeon (Du) von Shanghai über Fragen der Verwaltung des kirchlichen Lebens haben eine normale Entwicklung auch nicht gerade gefördert. Am bedauerlichsten ist es, dass die Schaffung eines nationalen Klerus nicht befriedigend gelöst werden konnte. So hatte die Chinesische Orthodoxe Kirche in den 1950er Jahren nur zwei chinesischen Bischöfe und knapp 20 chinesische Geistliche (zum Vergleich: die Katholische Kirche, die sich der Notwendigkeit zur Schaffung eines nationalen Klerus deutlich bewusst war, zählte zu Beginn der 1960er Jahre Dutzende chinesischer Bischöfe und Hunderte Priester und Nonnen im Lande – so konnte sich die Katholische Kirche in China während der Periode der „Kulturrevolution“ trotz brutaler Verfolgungen halten). Die massenhafte Abreise russischer Gemeindemitglieder in den 1950er Jahren hat dazu geführt, dass Gotteshäuser verwaisten und vielfach schließen mussten. Bildhaft gesprochen hatte mit dem Exodus der Russen aus China auch der Exodus der Orthodoxie begonnen – und dies zeigt deutlich, dass es ein Fehler war, die Russische Kirche als Kirche einer nationalen Minderheit auf dem Territorium Chinas aufzubauen.
Die Verbindungen mit der Russischen Orthodoxen Kirche waren weitgehend geschwächt. In den 1950er Jahren ermöglichte es die positive Einstellung der Regierung zur Orthodoxen Kirche, unter den Bedingungen der sowjetisch-chinesischen Allianz und bei zehntausenden russischen Aussiedlern, die in der Volksrepublik China verblieben, Versuche zum Aufbau des Fundaments ihres selbstständigen Lebens zu unternehmen. Doch mit zunehmender Abkühlung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen und der massenhaften Aussiedlung von Russen sowohl in die UdSSR als auch in den Westen wurde die Regierung der Volksrepublik China gegenüber der Chinesischen Orthodoxen Kirche feindseliger, was zu ihrem Konzept der atheistischen, antireligiösen Politik passte. In den 1960er Jahren erlitt die Chinesische Orthodoxe Kirche massenhafte Verfolgung, die sie als Einrichtung praktisch vernichtete. Viele Gotteshäuser wurde einfach zerstört, andere in Lager umgewandelt oder geschlossen, Gottesdienste wurden überall verboten und das Kircheneigentum konfisziert, geplündert oder vernichtet. Bis heute sind überall auf dem Territorium des Landes, insbesondere in den nordwestlichen Provinzen, Dutzende zerstörter orthodoxer Gotteshäuser zu finden. Verwüstet und beraubt wurden auch zahlreiche orthodoxe Friedhöfe.
In den harten Jahren der „Kulturrevolution“ wurde die Chinesische Orthodoxe Kirche durch die Glaubenstaten (Podwigen) des Neomärtyrertums und des Glaubensbekenntnisses ihrer Hirten verherrlicht, deren Namen bis heute noch nicht alle bekannt sind. Nicht nur chinesische orthodoxe Geistliche, auch viele Laien wurden bis zum Tode gefoltert oder in Arbeitslager zur Umerziehung geschickt. Es gibt einige Bezeugungen ihrer Glaubenstaten, aber sie warten noch auf ihre Verkündigung. Das traurige Ergebnis der politischen Prozesse in China war die Zerstörung der noch schwachen Strukturen, in denen die Erfahrung des spirituellen Leben, der Gebets- und der Gottesdienstpraxis aufbewahrt und weitergegeben wurden.
Nach Beginn der Politik der Reformen und der Offenheit begannen die vorher geschlossenen religiösen Einrichtungen im ganzen Land ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen. Von der Regierungspolitik zur Berichtigung der Fehler der „Kulturrevolution“ profitieren auch die orthodoxen Gemeinden (so wurde z.B. 1990 im Argun-Gebiet, wo in den 1960er Jahren 18 orthodoxe Gotteshäuser zerstört worden waren, als „Berichtigung des Fehlers“ ein Gotteshaus gebaut). In vielerlei Hinsicht wird die Orthodoxe Kirche in China von der Regierung als Kirche der russischen nationalen Minderheit wahrgenommen; daher wurde die Politik der Bewahrung der kulturellen Einzigartigkeit der nationalen Minderheiten auch auf die russischen Bürger der Volksrepublik China ausgedehnt (die vorwiegend inXinjiang und der inneren Mongolei wohnen). Die Priester und Laien, die die Jahre der „Kulturrevolution“ überlebten, haben ihre Treue zu Christus bewahrt und Anfang der 1980er Jahre die Erlaubnis erkämpft, die Gemeindetätigkeit in einigen Städten der Volksrepublik China wieder aufzunehmen. In den meisten Fällen hat die Regierung die Kosten der Wiederherstellung der zerstörten Gotteshäuser übernommen; so wurden aus Mitteln der chinesischen Regierung die Gotteshäuser zu Ehren von St. Nikolaus in Ürümqi (1986), zu Ehren vonSt. Innokentios von Irkutsk in Labdarin (1990), zu Ehren von St. Nikolaus in Gulja (2000) und zu Ehren von St. Johannes dem Täufer in Huángshān in der Nähe von Harbin (1995) wiedererrichtet.
1984 gab die Regierung die offizielle Erlaubnis zur Wiederaufnahme der Gottesdienste im Mariä-Obhut-Gotteshaus der Stadt Harbin. Der orthodoxen Gemeinde Harbins wurde das kirchliche Eigentum teilweise zurückgegeben. Vorsteher des Gotteshaus wurde PriesterGregorZhu († 21.09.2000), der vorher in Harbin undDalian gedient hatte. Er war der einzige orthodoxe Priester auf dem Territorium der Volksrepublik China, der im Zeitraum von 1986 bis 2000 zelebrierte. Nachdem die Volksrepublik China 1993 von einer Delegation der Russischen Orthodoxen Kirche aufgesucht worden war, besuchte Vater Gregor Khabarowsk und Moskau, wo er das hl.Myron und ein Antimension erhielt, um Gottesdiensten im Mariä-Obhut-Gotteshaus in Harbin zelebrieren zu können. Vor dem Dahinscheiden von Vater Gregor wurde im Gotteshaus auf Kirchenslawisch zelebriert und des Patriarchen von Moskau und ganz Russland gedacht[1]. Nach seinem Dahinscheiden gab in China (außer Hongkong) kein Gotteshaus mehr, in dem Staatsbürger der Volksrepublik China – sowohl Russen als auch Chinesen – an Gottesdiensten teilnehmen konnten. Seit 2010 ermöglicht die Regierung manchmal, im Mariä-Obhut-Gotteshaus in Harbin Gottesdienste für ausländische Gläubige, die in Harbin wohnen, zu verrichten.
1986 erreichte eine Gemeinde von Russen, die in Xinjiang wohnten, die Erlaubnis, ein St.-Nikolaus-Gotteshaus in Ürümqi bauen zu lassen. Der Bau wurde 1990 beendet; allerdings wurden im Gotteshaus bisher keine Gottesdienste abgehalten, da es in Xinjiang keine Priester gibt. Das Gotteshaus ist bis heute ungeweiht. An Feier- und Sonntagen versammeln sich die Orthodoxen Xinjiangs aber im Gotteshaus zum Gebet. 1990 wurde ein orthodoxes Gotteshaus zu Ehren des Hl. Hierarchen Innokentios von Irkutsk in Labdarin (Erguna) im Autonomen Gebiet Innere Mongolei erbaut. In der Stadt Gulja wurde dank dem Engagement von Galina Merkulowa(† 2008) das St.-Nikolaus-Gotteshaus aufgebaut. Im selben Jahr verkündete die Regierung die Finanzierung des Baus eines orthodoxen Gotteshauses inTacheng.
Die Geschichte der Orthodoxen Kirche in Peking reicht bis Ende des 17. Jahrhunderts zurück, und ihre Spuren sind in der chinesischen Hauptstadt bis heute erhalten. Der historische orthodoxe Friedhof, heute in einen Stadtpark („Qing Nian Hu“) umgewidmet, ist in der Nähe der Andingmen-Straße erhalten. Bis in die 1980er Jahre stand dort das St.-Seraphim-Gotteshaus, das im Jahre 1986 zerstört wurde. An seiner Stelle ist nun ein Golfplatz, unter dem die Reliquien der Märtyrer von Alapajewsk[2] und des Boxeraufstandes liegen. Die ehemalige Botschaftskirche zu Ehren der Begegnung des Herrn im Nantang-Gebiet (das südliche Metochion der Russischen Geistlichen Mission in Peking) wurde ebenfalls in den 1980er Jahren zerstört. Im Pekinger Glockenmuseum werden zwei russische Glocken aufbewahrt – eine vom Glockenturm der Mission, die andere vom St.-Seraphim-Gotteshaus. In einem Pekinger Museum wird die Grabplatte des Oberhauptes der Ersten Russischen Geistlichen Mission in Peking, Archimandrit Hilarion (Leschajski), aufbewahrt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts befand sich das Territorium der Russischen Geistlichen Mission in Peking im Stadtteil Beiguan, wo sich heute auf seinem historischen Territorium die Botschaft Russlands befindet. Mehrere Jahrhunderte lang war Beiguan das spirituelle Zentrum der Orthodoxen Kirche in China. 1956, nachdem das Territorium der Mission an die Botschaft der UdSSR übergeben worden war, wurde das Hauptgotteshaus zu Beiguan, geweiht zu Ehren der Märtyrer des Boxeraufstandes, und auch der Glockenturm der Mission zerstört. Das Mariä-Entschlafens-Gotteshaus wurde als Garage und das kreuzförmige Bischofsgotteshaus, geweiht zu Ehren des Hl. Innokentios von Irkutsk, einem der Himmelpatrone Chinas, als Botschaftsempfangssaal benutzt. Gottesdienste auf dem Territorium Beiguans fanden mehr als 40 Jahre nicht mehr statt.
Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde auf dem Territorium der Russischen Botschaft die Praxis der regelmäßigen orthodoxen Gottesdienste wiederbelebt. Sie wurde im Gotteshaus zu Ehren des Hl. Hierarchen Innokentios von Irkutsk zelebriert, das auf dem Territorium der Botschaft erhalten ist. Vor der Schließung der Russischen Geistlichen Mission war dieses Gotteshaus ein kreuzförmiges Bischofsgotteshaus gewesen, in dem täglich Gottesdienste auf Chinesisch zelebriert worden waren. Gebaut im chinesischen Stil, ist er ein Symbol der Orthodoxie in der chinesischen Welt. Heutzutage ist das Gotteshaus wieder geschlossen. Es werden keine Gottesdienste mehr verrichtet, nach einem Beschluss der Leitung der Russischen Botschaft, auf dessen Territorium im Jahre 2009 das nun funktionierende Mariä-Entschlafens-Gotteshaus wiedererrichtet wurde, das allerdings den Status eines Museums hat. Die Möglichkeiten des Besuches sind auch für russische Staatsangehörige eingeschränkt.
Mehrmalige Bittschriften der Orthodoxen von Peking an die Regierung, ihnen einen neuen Gebetsraum zur Verfügung zu stellen, bleiben bis heute ohne Erfolg. Die Ursachen dafür liegen sowohl an der geringen Zahl, der schwachen Organisation und der Aufsplitterung der orthodoxen Gläubigen in Peking als auch am besonderen Status der Hauptstadt.
In Schanghai ist die Regierung wie in Peking nicht bereit, das orthodoxe Gotteshaus für die gottesdienstliche Nutzung freizugeben – vor allem, weil es in Schanghai keine anerkannte Gemeinde orthodoxer Christen gibt. Die Stadtregierung von Shanghai hat die beiden erhaltenen orthodoxen Gotteshäuser der Stadt – die Kathedrale zum Gedenken der Gottesmutterikone „Mitbürgin der Sünder“ und das St.-Nikolaus-Gotteshaus, das zum Gedenken an die Ermordung von Zar Nikolaj II. errichtet wurde – unter ihren Schutz gestellt. Hauptursache der diffusen Lage des kirchlichen Lebens in Schanghai ist die Aufsplitterung der orthodoxen Christen. Die Gemeinde hat weder juristischen Status noch einen eigenen Raum. Die zwei Schanghaier Priester, Priester Mikhael Wan und Diakon Evangel Lu, nehmen manchmal an Gottesdiensten teil, die von der Gemeinde der Russischen Orthodoxen Kirche für russischsprachige und ausländische Staatsangehörige verrichtet werden. Gemeinsam mit den russischsprachigen Gemeindemitgliedern nehmen an diesen Gottesdiensten manchmal auch Staatsangehörige der Volksrepublik China teil. Einige von ihnen wurden als Kinder noch vor der „Kulturrevolution“ getauft und hatten jahrelang keine Möglichkeit, ihren Glauben offen zu praktizieren. Im Mai 2010 hat die Regierung von Schanghai der ausländischen orthodoxen Gemeinde von Shanghai gestattet, das St.-Nikolaus-Gotteshaus zur Zelebrierung von Gottesdiensten vorübergehend zu nutzen.
Im Jahre 2003 wurde die Russische Orthodoxe Kirche in Hongkong wiederbelebt. So wurde in Hongkong mit dem Segen Seiner Heiligkeit des Patriarchen Alexij die orthodoxe Bruderschaft zu Ehren der Hl. Apostel Petrus und Paulus gegründet. Seine Aktivitäten erstrecken sich sowohl auf die pastorale Betreuung von in Hongkong wohnenden Landsleuten, als auch auf die Unterstützung der Autonomen Chinesischen Orthodoxen Kirche. Die Bruderschaft beschäftigt sich auch aktiv mit der Übersetzung der orthodoxen Literatur ins Chinesische. Innerhalb von fünf Jahren wurden ca. 15 Auflagen von liturgischer Literatur, Erbauungsliteratur und Heiligenvitae in Chinesisch und Englisch vorbereitet und veröffentlicht. Im Herbst 2008 wurde laut Beschluss des Synods der Russischen Orthodoxen Kirche das Wirken der Gemeinde zu Ehren der Hl. Apostel Petrus und Paulus, die in Hongkong von 1933 bis 1970 existierte, wiederbelebt. In der wiederhergestellten Gemeinde werden Gottesdienste auf Kirchenslawisch, Englisch und Chinesisch verrichtet. Heutzutage ist diese Gemeinde die einzige Gemeinde in China, die sowohl über einen legalen kanonischen und juristischen Status als auch über eine vollständige Gemeindestruktur verfügt. Es gibt dort eine Sonntagsschule, eine Bibliothek und ein Zentrum für die Russische Sprache. Neben den gottesdienstlichen Aktivitäten beschäftigt sich die Gemeinde mit der Veröffentlichung und Verbreitung orthodoxer Literatur in Hongkong und der Volksrepublik China, in Taiwan, Singapur und bei orthodoxen Chinesen weltweit.
Bemerkenswert ist, dass die orthodoxen Gemeinden in China über keine eigene Ressourcen verfügen, die für die Organisation ihrer Aktivitäten ausreichen würden. Auch die Erfahrung des gemeindlichen und gottesdienstlichen Lebens ist verloren gegangen. In vielen Fällen gingen kirchliche Heiligtümer (zum Beispiel die wunderwirkende Ikone der Gottesmutter von Tabynskaja, die in einem Gotteshaus inGulja (Yining) im Gebiet Xinjiang aufbewahrt wurde), Kirchengeräte und liturgische Bücher in den Besitz der Regierung über und verbleiben dort noch heute.
Am 7. Februar 1997 beschloss der Heilige Synod der Russischen Orthodoxen Kirche anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Autonomie der Chinesischen Orthodoxen Kirche, die Herde der COK intensiver zu betreuen. Es wurde auch beschlossen, dass bis zur Wahl eines Vorstehers für die COK auf einem Lokalkonzil die kanonische Betreuung der Gemeinden auf dem Territorium der Volksrepublik China vom Patriarchen von Moskau und ganz Russland geleistet werden soll. Mit weiteren Beschlüssen des Synods der Russischen Orthodoxen Kirche wurde die Betreuung der Herde vonXinjiang durch die Metropolie von Kasachstan und die der Gemeinden in der Inneren Mongolei durch die Diözese von Tschita und Transbaikalien beschlossen. Von großer Bedeutung für die Normalisierung der Lage der Gemeinden derCOK sind die Kontakte mit der ROK, mit der Staatsverwaltung für Religionsangelegenheiten beim Staatsrat der VR China sowie mit chinesischen Wissenschaftlern, die sich mit Studien zur Orthodoxie beschäftigen.
Bei der Entscheidung über den richtigen Wegen der Orthodoxen Kirche in China ist es wichtig, das Wesen der komplexen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozesse zu verstehen, die China heute durchläuft. Es befindet sich in einer besonderen Entwicklungsperiode. Durch die Zerstörung des ideologischen Fundaments des Atheismus und der Übergangsperiode in Wirtschaft und Gesellschaft ist im Land ein spirituelles Vakuum entstanden. Während der letzten 30 Jahre ist die Anzahl der Christen in China sehr gewachsen (seit 1949 hat sich die Anzahl der Katholiken vervierfacht, die der Protestanten, nach konservativen Schätzungen, sogar verzwanzigfacht). In diesen Jahren, die jetzt schon als „das goldene Zeitalter des Christentums in China“ gelten, sind Zehntausende katholischer und protestantischer Gemeinden überall im Lande entstanden. Es ist sogar vom „christlichen Fieber“ die Rede, was das unaufhaltsame Wachstum des Christentums in China bezeichnet.
Die Renaissance durch die Periode der Reformen und der Offenheit hat alle religiösen Bewegungen ergriffen. Dies ist ein kompliziertes Phänomen, das vor allem mit dem faktischen Zusammenbruch des ideologischen Atheismus zusammenhängt. Eine besondere Rolle spielen dabei das Nachlassen repressiver Maßnahmen durch die Regierung, die gewachsene soziale Mobilität der Bevölkerung sowie die bessere Kommunikation mit dem Ausland. Es gibt auch eine Reihe von spezifischen inneren Ursachen, die das religiöse Bewusstseins des Volkes fördern, vor allem die Treue der chinesischen Gläubigen zu den Werten, zu denen sie sich bekennen. Obwohl von Verfolgung und Repressionen bedroht, waren viele von ihnen vorbildliche Glaubensbekenner, was Grundlage der religiösen Wiederbelebung des Landes geworden ist.
Zur Wiederbelebung des religiösen Lebens in China, deren Zeugen wir heute werden, möchte ich einige religiöse, soziale und politische Aspekte betonen. Jeder dieser Aspekte hat mindestens zwei Dimensionen: die Verwurzelung in den Traditionen der chinesischen Gesellschaft und Kultur, und die Traditionen des Christentums.
Der Prozess der religiösen Renaissance hängt nicht nur mit inneren Prozessen der chinesischen Gesellschaft, sondern auch mit der Interaktion der religiösen Gemeinden mit Gleichgläubigen im Ausland zusammen. Also hat die religiöse Wiederbelebung nicht nur eine innere, sondern auch eine äußere Dimension. Die Kräfte, die die an diesem Prozess mitwirken, werden in naher Zukunft die Strukturen der gesamten chinesischen Welt verändern. Das westliche Christentum zählt heute schon zu diesen Kräften. Die Frage nach der Rolle und der Stelle der Orthodoxie im diesem Prozess bleibt jedoch offen.
Die Orthodoxie ist das einzige christliche Bekenntnis, dessen Gemeindemitglieder und Gotteshäuser sich nicht nur nicht vermehrt, sondern sogar verringert haben. Das Wachstumspotential bleibt aber bestehen; es ist nur wichtig, die Missionsarbeit richtig aufzubauen.
Der Vorgang der Wiedererrichtung des religiösen Lebens in China betrifft nicht nur christliche (darunter auch orthodoxe) Gemeinden, die dringend Unterstützung benötigen. Wichtig ist auch der Dialog mit der Wissenschaft, die dem Studium des Christentums (vor allem der westlichen Kirchen, in den letzten Jahren aber auch der Orthodoxie) immer mehr Aufmerksamkeit widmet. Auf der Suche nach Antworten auf die fundamentalen Fragen und Herausforderungen, vor denen die chinesischen Gesellschaft steht, ist die intellektuelle Elite Chinas nicht nur bereit, die Werte der christlichen Welt zu studieren, sondern häufig auch offen dafür, sie tief zu verinnerlichen. Die Russische Orthodoxe Kirche ist heute berufen, den Interessenten in China eine vollständige und befriedigende Antwort darauf zu geben, was die Orthodoxie ist und was ihre Wege in der Welt und ihre Werte und Aufgaben sind.
Die Staatsgewalt und die regierende Kommunistische Partei Chinas beeinflussen den Vorgang der religiösen Wiederbelebung der Gesellschaft. Seitdem die Regierung Chinas die Liberalisierung und Modernisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft ausgerufen hat, steht sie vor der schwierigen Herausforderung, sich die Loyalität der schnell wachsenden religiösen Gemeinden zu bewahren, die nach Unabhängigkeit von der traditionellen Kontrolle und Regulierung streben. Eine der Hauptaufgaben ist heute die Erhaltung eines Gleichgewichtes zwischen Loyalität der religiösen Einrichtungen gegenüber der Staatsgewalt und der natürlichen Bestrebung nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Während China gegenüber der äußeren Welt immer offener wird, werden die religiösen Probleme immer wichtiger. Dabei vermeidet man die Politisierung religiöser Fragen (zum Beispiel der Frage nach der Lage der Orthodoxen Kirche), damit kein Anlass für den Verdacht einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas geschaffen wird. Dabei sind der Dialog zwischen Kirche und Regierung über die Normalisierung des Lebens der orthodoxen Gemeinden und die Wiedererrichtung des Klerus und der Hierarchie sowie des Systems der geistlichen Bildung in China die Schlüsselinteressen der Russischen Orthodoxen Kirche, um zu einer wahren Wiederbelebung der Orthodoxie in China beizutragen.
Die zunehmende Migration, auch der chinesischen Bevölkerung, berührt ebenfalls die Frage nach der Orthodoxie in China. Heute würde es schwerfallen, die Diskussion ohne eine Regelung der Beziehung zwischen der chinesischen Metropolie und den Ländern der chinesischen Diaspora als effektiv zu betrachten. Beides macht heute die chinesische Welt aus, die nicht auf ein bestimmtes staatliches Territorium beschränkt ist. Während wir die Frage nach der orthodoxen Predigt betrachten, sollten wir den geographischen Rahmen erweitern, um den Gegenstand vollständig zu betrachten, den wir als Problem der orthodoxen Predigt in der chinesischen Welt bezeichnen können. Das betrifft sowohl die Metropolie in der Volksrepublik China als auch das chinesische Ausland, einschließlich der Länder der chinesischen Diaspora. Die chinesische Welt ist die uns zeitgenössische Wirklichkeit, die von den Einwohnern Zentralrusslands (geschweige ihrer östlichen Regionen) nicht unbedingt weit entfernt liegt.
Bis vor kurzem war die Russische Orthodoxe Kirche die einzige autokephale Kirche, die die orthodoxe Predigt in China in den letzten Jahrhunderten praktizierte. Die jüngst erfolgte Neugründung Ökumenischen Patriarchats auf den Territorien von Hongkong und Taiwan wäre ohne die Russische Orthodoxe Kirche, welche kraft Sukzession die Verantwortung für das Schicksal der Orthodoxie in China trägt, nicht möglich gewesen.
Zugleich gibt es Versuche des Patriarchats von Konstantinopel, sowohl diese Sukzession als auch die von der Russischen Orthodoxen Kirche angelegten kanonischen Prinzipien für die Kirche in China anzufechten. Ein wichtiges Thema ist auch die interorthodoxe Interaktion in Fragen der Mission in China.
Eine Normalisierung der Lage der COK, deren wichtigste Aufgabe, nämlich die Ausbildung von Klerikern, sowie die Anerkennung der COK durch die ökumenische Orthodoxie sind nicht ohne Unterstützung von außen möglich. Die COK, der ein halbes Jahrhundert lang die bischöfliche und pastorale Betreuung genommen wurde, wird es ohne brüderliche Hilfe nicht schaffen, ein vollwertiges kirchliches Leben für ihrer Herde wiederherzustellen.
Folgende Probleme hat die Orthodoxe Kirche in China heute:
- Mission in der chinesischen Welt als all-kirchliche Aufgabe;
- Erarbeitung und Koordinierung von Programmen zur Normalisierung der Lage der COK;
- Finanzierung von missionarischen Projekten, die mit der orthodoxen Predigt in der chinesischen Welt verbunden sind.
Die gegenwärtige Lage der COK kann als kritisch bezeichnet werden. Setzen sich die heutigen Tendenzen innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre durch, kann die COK an ihren angestammten Orten völlig verschwinden. Um diese negativen Tendenzen umzukehren, ist es notwendig, ein langfristiges Programm zur allseitigen Unterstützung der COK aufzustellen. Wegen des besonderen Charakters der heutigen Entwicklung Chinas sowie der besonderen historischen Verantwortung der Russischen Orthodoxen Kirche für die Kirche in China haben wir heute die Möglichkeit, nicht passive Zuschauer beim Verschwinden der Orthodoxie in China zu sein, sondern Protagonisten ihrer Wiederbelebung zu werden.
[1] Das Gedenken des Namens eines Ersthierarchen bedeutet die kanonische Zugehörigkeit zur Jurisdiktion der von ihm geleiteten Kirche. (A.d.Ü.)
[2] Im April 1918 wurden einige verhaftete Mitglieder der Kaiserlichen Familie (Großfürstin Jelisaweta Feodorowna, die Großfürsten Wladimir Paley und Sergei Romanow sowie dessen Brüder Iwan, Konstantin und Igor von den Bolschewiken in die Stadt Alapajewsk im Mittleren Ural gebracht, wo sie am 18. Juli 1918 von der Tscheka in einen Minenschacht geworfen und mit Handgranaten ermordet wurden. Ihre Reliquien wurden später von der Weißen Armee geborgen und nach China gebracht.(A.d.Ü.)
Pozdnyaev, Dionisy, Erzpriester